21.02.06

Tobias Kaufmann

Armer Herr Ling!

Haifeng Ling, Deutschland-Chef des chinesischen Handy-Bauers ZTE, hat der Berliner Zeitung (in der Ausgabe vom 18.2.) ein Interview »über Arbeitsethos, Arbeitsteilung und den Aufstieg der Industrie im Reich der Mitte« gegeben. Was, außer Mohammed-Karikaturen, »Kampf der Kulturen« sein könnte, kommt in diesem Gespräch schön heraus.

»Die Deutschen verplempern zu viel Zeit fürs Private. Wenn Deutsche Urlaub machen, dann sind sie abgeschnitten vom Rest der Welt.«, sagt Ling. »Hinzu kommt, dass sie ständig Zeit vertrödeln für Dinge, die andere besser erledigen könnten. Die Deutschen jäten Unkraut im Garten oder kochen für die Familie, obwohl es Spezialisten dafür gibt, die das viel besser und schneller können. In China gehen die Familien abends ins Restaurant. Und die Kinder werden morgens abgeholt und in die Schule gebracht. Der Deutsche aber verbringt einen Großteil seiner Zeit mit Tätigkeiten, die nichts mit seiner Ausbildung und seinen Stärken zu tun haben.«

Lassen wir hinterhältige Nachfragen mal beiseite, wie jene, auf wie viel Prozent der 1,3 Milliarden Chinesen der von Ling dargestellte Lebenswandel tatsächlich zutrifft (Ich habe meine Zweifel, dass sich jede chinesische Reisbäuerin jeden Abend nach der Arbeit fein macht, um mit der Familie essen zu gehen, statt zu Hause Reis zu kochen). Ebenso wollen wir nicht erwähnen, dass nicht alle, die chinesische Kinder morgens abholen, auf dem Weg zur Schule sind – manche lassen die Kinder auch ein paar Monate in einem geheimen Trainingscamp verschwinden, um Dopingmittel an ihnen auszuprobieren und sie so auf die Olympischen Sommerspiele in Peking 2008 vorzubereiten. Wir wollen auch nicht polemisch werden, und zart andeuten, dass viele fleißige Chinesen die Zeit, die wir mit unserem Leben verplempern, mit Vorliebe dazu nutzen, unsere Patente zu klauen. Schließlich wollen wir einen Mantel des Schweigens auch über die Tatsache hüllen, dass die Chinesen – neben ihrem privaten Kleinscheiß – auch Dinge wie »frei, gleich und geheim wählen«, »Meinung sagen« und »frei durchs Internet surfen« mehr oder weniger freiwillig an »Spezialisten outgesourct« haben.

Dennoch: Ich gebe zu, dass ich mich mit »die Deutschen« angesprochen fühle. Ich verplempere zu viel Zeit fürs Private, indem ich mein Kind persönlich morgens in den Kindergarten bringe. Sogar das Spielen mit diesem schrecklich faulen Kind übernehme ich abends selbst, statt das jemanden machen zu lassen, der dafür Spezialist ist. Völlig unverständlich, dass die kleine Vorsitzende sich das gefallen lässt, diese inkompetente, gefühlsduselige Spielerei. Aber ich bin nicht der einzige schlimme Deutsche in unserer Familie: Süße kocht für mich und die kleine Vorsitzende fast jeden Abend – und das, obwohl sie einen Universitätsabschluss hat! Ich habe sogar Verwandte, die Unkraut jäten! Und das widerlichste ist: all diese unfassbaren Perversitäten machen uns Spaß!

Vielleicht sind wir mit unserem verweichlichten Streben nach Glück ja wirklich nicht hart genug für die Chinesen, weswegen sie uns eines Tages von dem Antlitz der Erde tilgen oder zumindest in imperialer Knechtschaft halten werden. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt: Vielleicht würden die Chinesen ihre knappe Lebenszeit auch viel häufiger mit Privatem verplempern, wenn Leute wie Herr Ling sie ließen?

Aber ich möchte keinen Kampf der Kulturen heraufbeschwören. Wenn Herr Ling es gerne möchte, kann er sich selbstverständlich mitten in Deutschland Tag und Nacht den Arsch abarbeiten und seine Kinder von dafür spezialisierten Mitarbeitern zeugen und aufziehen lassen. Wir sind ein freies Land. Und wir alle wollen hoffen, dass ein schmuckes, neues Handy von ZTE Herrn Ling auf seinem Sterbebett die Hand halten wird. Für solchen Privatkram hat eine chinesische Familie nämlich keine Zeit. Und wenn sie doch Zeit hat, dann ist sie gerade im Restaurant. Armer Herr Ling!