Der Führer schwitzt. Eine kleine Perle Wasser glänzt auf der Wachshaut. »Normalerweise stehen die Figuren im Dunklen«, erklärt Inna Vollstädt entschuldigend. Doch hier, im vierten Stock eines modernen Bürohauses am Berliner Checkpoint Charlie, steht die lebensgroße Figur von Adolf Hitler direkt am Fenster, mitten in der Sonne. Besser gesagt: stand. Denn nach drei Tagen Hitlerfigur-Aufregung, für die zu Unrecht auch die jüdische Gemeinde verantwortlich gemacht wurde, hat Vollstädt, die Ausstellungsleiterin, den Führer woanders hingestellt. Doch heute, an diesem frühlingswarmen Mittwoch, ist diese Entwicklung noch nicht abzusehen. Vor mir steht Adolf Hitler in Lebensgröße.
Die Lebensgröße ist klein. Er hat die Hände vor dem Schoß gefaltet, die Füße stehen akkurat nebeneinander. Wäre da nicht der olivgrüne Uniformrock mit Hakenkreuz und eisernem Kreuz – er sähe aus wie ein Konfirmand. Vor Hitler sitzen Stalin, Roosevelt und Churchill. Bereits im vergangenen Jahr hatte sich das Russische Haus in Berlin-Mitte vom St. Petersburger Wachsfigurenkabinett Figuren aus der russischen Geschichte für eine Ausstellung geliehen. Inzwischen sind die täuschend echten Nachbildungen von Zar Peter I., Lenin, Stalin, Gorbatschow und Putin in die Galerie Art'el am Checkpoint Charlie umgezogen. Dort firmieren sie, wie das große Vorbild in St. Petersburg, unter dem Titel »Wachsfiguren-Kabinett« und haben Zuwachs bekommen. Am Eingang sitzt Agatha Christie. Batman und sein Gegenspieler Pinguin stehen im ersten Raum rechts. Geradeaus stehen Boris Jelzin und Franz-Josef Strauß, beide dünner als die Vorbilder. Und etwas weiter, an der verglasten Rückwand, steht der schwitzende Adolf Hitler.
»Das haben wir gleich«, sagt Ausstellungsleiterin Vollstädt, und kurze Zeit später ist eine Mitarbeiterin mit Pinsel und etwas hautfarbener Schminke dabei, die kleine Unpässlichkeit des Wachs-Führers zu entfernen. Für Vollstädt ist der Mann, der auf dem Schild zu seinen Füßen als »Nazi-Diktator und Reichskanzler von 1933-1945« vorgestellt wird, eine Figur wie jede andere hier, die man – so die Werbung auf Plakaten und Handzetteln – hautnah bewundern und mit denen man sich fotografieren lassen kann. Seit die israelische Zeitung »Maariv« vergangene Woche mit Verwunderung festgestellt hat, dass »Hitler wieder in Berlin« ist, kommen Reporter und Fotografen in die Ausstellung, die drei Monate lang kaum beachtet wurde. Der Fotograf von Reuters hat Hitler erst dorthin gestellt, wo er jetzt steht. Es ist, als würde er hinaus blicken auf die Friedrichstraße. Vorher stand er neben Stalin. »Finden Sie, dass er in der Ecke zu unschuldig aussieht?«, fragt Inna Vollstädt.
Sie trägt wasserstoffblonde Haare und grellen rosa Lippenstift. Um den Hals hängt eine Kette mit einem großen, silbernen Kreuz und einer stilisierten Rose. Ihre Lieblingsfigur in dem kleinen Kabinett ist Erich Honecker. Der ironisch verzogene Mund, der ausgestreckte Arm, der komische Hut, der blaue Anzug, der an den Ärmeln etwas zu kurz ist und über den Schultern spannt. »Honecker ist künstlerisch unsere beste Figur«, sagt Vollstädt. Nur die Krawatte passt nicht. »Das ist eine alte, die mein Mann ausrangiert hat«, sagt Vollstädt. Auch beim Rest des Kostüms muss sie bald improvisieren. Das Museum in St. Petersburg braucht den blauen Anzug für eine andere Figur und will ihn zurück. »Ich werde nachher mal in den Secondhandshop gehen und was passendes suchen.« Sie will Honecker ausziehen? »Ach, wir ziehen die Figuren doch ständig an und aus«, sagt Vollstädt. Sie lacht.
Dass wenige Tage später ein Skandal über sie hereinbrechen wird, nachdem genügend Journalisten ihren Hitler gesehen und sich lokale Prominente über die naive Art empört haben, mit der hier ein wächserner Massenmörder auf die ehemalige Reichshauptsstadt starren darf, weiß sie noch nicht. Dass sie den Führer in die Besenkammer stellen und trotzdem per Fax die Kündigung ihres Vermieters bekommen wird, nur wenige Tage später, und dass sie – die Vorsitzende eines russischen Künstlervereins, dem viele Juden angehören – in der Zeitung sagen wird: »Ich bin ruiniert«, all dies kann Inna Vollstädt in diesem Moment nicht ahnen.
»Haben Sie schon unseren schaurigsten Raum gesehen?«, fragt sie stattdessen. Sie führt die Besucher in ein Zimmer und knippst das Licht an. Männer mit Pistolen stehen im Dämmerschein, eine Familie krümmt sich am Boden. Ein Mann lehnt mit einer Schusswunde im Kopf an der Wand. »Das ist die Erschießung der letzten Zarenfamilie. Sehr beliebt bei unseren russischen Gästen«, sagt Vollstädt. Einen Raum weiter sitzt Lolo Ferrari, die Pornoqueen. Ihre riesigen Brüste sind lebensgroß und ähnlich echt wie die Originale.
Nur wenige hundert Meter von Ferraris Brüsten entfernt, im »Führerbunker«, soll Hitler in seinen letzten Minuten am 30. April 1945 den Befehl gegeben haben, genügend Benzin bereit zu stellen, damit seine Leiche nach dem Selbstmord verbrannt werden könnte: »Ich wünsche nicht, nach meinem Tode in einem russischen Panoptikum aufgestellt zu werden.« Das Zitat wurde von Erich Kern, alias Erich Kernmayer, einem der führenden rechtsextremen Publizisten der Bundesrepublik, überliefert und es ist höchst fragwürdig, ob Hitler diesen Satz jemals sagte. Doch jetzt, wo er in einer russischen Ausstellung als Wachsfigur steht, würde man sich wünschen, dass das Zitat authentisch ist. Dann hätte Inna Vollstädt dafür gesorgt, dass der letzte Wille des Führers nicht erfüllt wurde.
Vollstädt führt die Besucher weg von Hitler, erklärt jede Figur. »Haben sie alles gesehen?« fragt sie mehrmals. Sie zeigt, wie stolz sie auf die Sammlung ist. Und sie will auch sagen: Hitler ist hier doch nur einer unter vielen. »Hat es Ihnen gefallen?«, will sie wissen. Und beim Rausgehen fragt die Ausstellungsmacherin: »Von welcher Zeitung kommen Sie noch mal?«. Von der Jüdischen Allgemeinen. Die Frau überlegt kurz. Dann lächelt sie und fragt: »Sie sind doch nicht böse, oder?«