Es rummst nicht mehr. Statt dessen piept es. Früher bebte der ganze Wagen, wenn die schweren Türen der Schnellzüge zugeworfen wurden. »Rumms!« Heute gleiten die Türen zu und rasten mit einem Schnappen ein. Bahn fahren ist eleganter geworden mit dem ICE, schneller und leiser. Aber ich werde nach wie vor melancholisch dabei, auch heute, auf dem Weg zu einem kurzen Besuch bei meinem Vater. Eine weiche Schwere überfällt mich. Manchmal ist sie so stark, dass ich anfange zu schreiben. Sogar Gedichte sind mir im Zug schon passiert – aber diese Bahn-Texte sind schon beim ersten Lesen außerhalb des Zuges peinlich.
Der lange, weiße Wurm gleitet fast geräuschlos aus dem Berliner Bahnhof Zoo. Darin herrscht immer Gedränge, bis hoch zu den viel zu engen, überfüllten Bahnsteigen. Demnächst soll der ICE hier nicht mehr halten. Doch statt sich auf den neuen, geräumigen Hauptbahnhof zu freuen, hat eine Bürgerinitiative direkt gegenüber der Bahnhofshalle eine Plakatwand gemietet, um den »Zoo« als Fernbahnhof zu erhalten. Irgendwie symptomatisch. Alle schreien nach Veränderung, doch sobald sich was verändert, soll alles beim Alten bleiben. Deutschland klammert, sogar unterwegs.
Die Buchungssoftware der Bahn hat mir einen Fensterplatz reserviert, Wagen 3, Platz 76. Oft friert man im ICE wegen der überdrehten Klimaanlage, heute dagegen ist es viel zu warm. Die junge Frau gegenüber behält trotzdem den dicken Wollpulli an, der einen Knutschfleck an ihrem Hals nicht ganz verdeckt. Der dünne, rothaarige Mann daneben ist offenbar Arzt. Er liest eine Broschüre über Diagnose mit einem MR-Spektroskop. Niemand macht den Versuch, ein Gespräch anzufangen. Das ist mir recht. Ich rede nicht oft mit Mitreisenden. Ich bevorzuge es, zu beobachten und hier und da mal zuzuhören. Dialoge im Zug können Kleinode sein. So wie der zwischen dem drängelnden Mann mit der Lederjacke und seinem Begleiter vorhin beim Einsteigen. Innerhalb von einer Minute führte das Gespräch von der angeblichen Misere bei Hertha BSC – »Die ganzen Kroaten bringen doch nix!« – bis zur allgemeinen Weltlage und schloss mit der Erkenntnis: »Ich zahle Mineralölsteuer – und die bauen dafür Radwege.« Wer wissen will, was die Leute so denken, muss ihnen beim Reisen zuhören.
Es gibt keinen festen Ort, der mein Deutschland wäre. Dazu bin ich vielleicht zu oft umgezogen, unfreiwillig und freiwillig. Ich entdecke dieses Land, wie man die Welt in einem Strategie-Spiel am Computer erobert: Eine schwarze Fläche, die aufreißt, wenn man sich fortbewegt. Die Fläche hat inzwischen große, helle Flecken – Städte, in denen ich gelebt habe oder die ich gut kenne. Zu ihnen führen beleuchtete Pfade, die in immer kleineren Verästelungen zu weiteren Lichtungen führen. Die meisten Punkte auf dieser Karte habe ich mit der Bahn erschlossen. Ich kann aus dem Stand von Flensburg bis München mehr als fünfzig Bahnhöfe aufzählen, an denen ich in den vergangenen zwanzig Jahren mindestens einmal aus- und eingestiegen bin. An einigen war ich dutzende oder hunderte Mal. 15 Monate lang hat mich die Bahn fast jedes Wochenende von meiner Zivildienststelle zu meiner Freundin und wieder zurück gebracht. Hameln – Nordstemmen – Hildesheim – Salzgitter Bad. Manchmal, wenn die Sehnsucht zu groß war, auch mitten in der Woche. Während des Studiums dann Potsdam – Brandenburg – Magdeburg – Braunschweig – Salzgitter Bad.
Wenn ich in den Zug steige, dann breitet sich diese riesige Landkarte voller Menschen, Orte und Erinnerungen, die mein Deutschland ist, plötzlich ganz vor mir aus und lässt sich ansehen.
Ich schaue aus dem Fenster. Das eintönige Deddimm-deddimm-deddimm der Räder auf den Schienen ist mir wie alle anderen Bahngeräusche seit meinem zehnten Lebensjahr vertraut. Damals, 1986, ließen sich meine Eltern scheiden. Jedes Wochenende bin ich danach mit meinen beiden Brüdern Bahn gefahren. Freitags nach der Schule besuchten wir meinen Vater, die Stationen konnten wir im Schlaf aufsagen: Vienenburg – Schladen – Börßum – Wolfenbüttel – Braunschweig. Sonntag abends zurück. Später hieß die Strecke Bad Harzburg – Oker – Goslar – Salzgitter Ringelheim. Jedes Mal sind wir zu Hause eingestiegen, um wieder nach Hause zu fahren. Die Zerrissenheit war allgegenwärtig im Abteil, aber ich glaube, wir haben sie damals weniger wahrgenommen. Jetzt, im Rückblick durch das ICE-Fenster, fühle ich sie deutlich. Die Waggons waren blau-beige, manche silber beschlagen. Die mächtigen Türen bekamen wir kaum auf. Wir saßen auf roten Gummisitzen oder weichen, gepolsterten Sesseln. Es gab strenge Schaffner, denen wir respektvoll unsere schmucklosen Papptickets entgegenstreckten. Die Bahn hieß Bundesbahn und war eine Behörde. Mein Deutschland war damals irgendetwas zwischen bunten Kaugummikugeln aus Automaten, Fußball und Indianerabenteuern im Wald. Dieses Land wurde von Helmut Kohl regiert. Trotzdem – oder deshalb? – wirkt es im Rückblick wohltuend bescheiden. Doch zugleich war es moralinsauer und geladen von starken Ideologien und Ängsten. Ein Gudrun-Pausewang-Land, in dem wir Kinder ständig mit der radioaktiven »Wolke« oder dem Atomkrieg rechneten, und in dem Frauen wie meine Mutter in Frauencafés saßen und heftig diskutierten, ob meine Brüder und ich schon als Männer gelten. In diesem Fall hätten wir vor der Tür warten müssen. Dieses Deutschland endete ein paar Kilometer hinter unserem Haus an einem Zaun mit Warnschild: »Achtung, Zonengrenze!« Dass nicht nur die DDR, sondern auch dieses Deutschland 1989 verschwunden ist und einem neuen, größeren Platz gemacht hatte, habe ich erst viel später gemerkt, im April 1997. Damals kam ich allein auf dem Potsdamer Hauptbahnhof an und meine erste Woche als Student in einer ostdeutschen Stadt begann.
Ich bin längst ein »Wossi« geworden, die Strecke zwischen der Mitte Berlins und Niedersachsen löst in beiden Richtungen Heimatgefühle aus. Erst ziehen die Speckgürtel-Siedlungen am ICE-Fenster vorbei, die Kleingarten-Kolonie mit der wehenden Hertha-Fahne, dann die riesige Windräder-Anlage. Und Wald. Ab und zu ragen grüne Wiesen hinein als hätte der Wald Geheimratsecken. Ich liebe diese Landschaft, obwohl sie Momente der Schwermut auslöst, seit ich fürs Fernsehen einen Bericht über Kriegstote in Brandenburgs Wäldern gemacht habe. Dort haben die letzten Schlachten des II. Weltkriegs in Europa getobt. Der Krieg kehrte zu seinen Verursachern zurück. Zehntausende Soldaten, Sowjets und Deutsche, sind hier gestorben, und in den Bäumen hingen Leichen, aufgeknüpft von SS- und Wehrmachtsoffizieren, die selbst in den letzten Stunden des »1000jährigen Reiches« noch Exempel statuierten an »Deserteuren« und »Wehrkraftzersetzern« – Männern, die nur nach Hause wollten.
Meine Beziehung zu dem Land, das draußen an mir vorbeizieht, war nie romantisch. Mein Held hieß Maradona, nicht Matthäus. Ich wahre Distanz. Auch wenn ich Brandenburgs Wälder damals noch nicht kannte, hat das vor allem damit zu tun, was in ihnen passiert ist. Oder in Orten wie Salzgitter Drütte, durch den ich nachher wieder fahren werde. In Drütte war ein KZ.
Wenn der Zug an ostdeutschen Provinzbahnhöfen anhält, an denen Laternenmasten mit »Opa war kein Verbrecher«-Sprüchen beklebt sind, spüre ich, wo mein Deutschland nicht ist. So wie an dem Tag, als ich zum ersten Mal in Magdeburg ausgestiegen bin, um ein Pokalspiel des 1. FC Köln anzusehen. Auf dem Rückweg zum Hauptbahnhof versuchten Magdeburger Hooligans, eine Straßenbahn voller Kölner Fans zu stürmen. Unter »Asylanten! Asylanten!«-Rufen schlich die Bahn durch die Stadt, links und rechts eskortiert von zwei Reihen Polizisten im Laufschritt. Seit die ICE-Strecke nicht mehr an Magdeburg vorbeiführt, denke ich nur noch selten an diesen Vorfall. Prägend war er trotzdem.
Einfach dazusitzen und seinen Gedanken nachzuhängen, macht angeblich dumm. Mich beruhigt es. Im Zug habe ich Zeit und Gelegenheit dazu. Ich wandere durch die Landschaft draußen vor dem Fenster, eine heile Welt aus Feldern, Industriegebieten und Fußballplätzen, solange man nicht aussteigt. Dazu höre ich Musik, meistens Heinz Rudolf Kunze, weil einfache Melodien und kompliziert verwobene Texte perfekt zu meinem Eisenbahn-Blues passen.
»Ich weiß was sich gehört / man isst nicht mit den Fingern / man kuckt bei fremden Damen / nicht immer nach den Dingern / man achtet das Gesetz / und auf die äußere Erscheinung / und sagt um Gottes willen / niemals ehrlich seine Meinung«, singt HRK.
Natürlich ist es Quatsch, zu glauben, im Zug sei alles anders. Oft genug platzt das Draußen ins Drinnen, in Form von entfesselten Kegelklubdamen oder betrunkenen Bundeswehrsoldaten. Auch der lautstarke Streit zwischen einem Fahrgast und der Schaffnerin auf dem Gang beweist es. Sie besteht darauf, ihn nur an ihr vorbei ins Bordrestaurant zu lassen, wenn er seine Karte vorzeigt – aber er hat sie an seinem Platz. Und während die Schaffnerin den einen Fahrgast aufhält, lässt sie zu, dass sich fünf andere ohne Kontrolle an ihr vorbeiquetschen. »Könnte es sein, dass Sie mich als Schwarzen besonders verdächtig finden?« ruft der dunkelhäutige Fahrgast erregt. Ausschließen kann es jedenfalls keiner, der die Szene verfolgt. Die Situation entspannt sich nur, weil der Zug hält.
Ich schließe die Augen. Die Wärme im Abteil macht dämmerig. Wenn ich nicht aus dem Fenster gucke, schlafe ich viel im Zug. Oder ich lese. Bahnhofsbuchhandlungen leben von Reisenden wie mir, die Wartezeiten beim Umsteigen überbrücken, indem sie Bücher und Zeitungen kaufen, die sie sonst nie kaufen würden. Zum Beispiel ein Hochglanzheft mit 20 Seiten über Lukas Podolski. Seit die Bahnhöfe fast überall saniert wurden, gibt es an den meisten auch etwas zu essen. Es ist, als ob wir Deutschen – mich eingeschlossen – tot umfallen würden, wenn unsere Kiefer nicht beschäftigt sind. Ich kann Bratwürsten, Crêpes und Schokoriegeln an Bahnhöfen selten widerstehen.
Aber heute habe ich keine Zeit für Ausschweifungen. Der Zug hat Verspätung. In Braunschweig springe ich aus dem ICE in die bereits wartende Regionalbahn. Hinter der rumpelnden Diesellok ist Bahn fahren wie vor fünfzehn Jahren. Schaffner gibt es allerdings nur noch selten. Alle Regionalzüge sind rot angestrichen, das Farbenchaos der Neunziger aus weißen ICEs, türkisfarbenen Interregios, beigen, blauen oder roten Intercitys und Nahverkehrszüge voller Graffiti gibt es nicht mehr. Die Bahn ist ein moderner Konzern geworden, aufgespalten in Unternehmensbereiche, die »Personenverkehr«, »Transport und Logistik« und »Infrastruktur und Dienstleistungen« heißen und wiederum unterteilt sind. Wenn ich ICE fahre, gehöre ich dem DB Fernverkehr. Im Regionalexpress bin ich Kunde von DB Regio und meine Fahrt wird vom Bundesland subventioniert, durch das ich reise. Aufgegebenes Gepäck wird zum Teil mit dem LKW über die Autobahn transportiert, statt wie früher im Gepäckwagen. Manchmal frage ich mich, ob die Manager der Deutschen Bahn selbst gerne Bahn fahren.
Die Regionalbahn verlässt den Bahnhof. Hopfengeruch. Wir passieren die beiden Braunschweiger Brauereien. Dann kommt die Sportanlage, auf der ich meine ersten Bundesjugendspiele absolviert habe. Dann freies Land, niedersächsisch, weniger Wald als in Brandenburg, viele Äcker. Rüben sind zu Haufen aufgeschichtet, um zur Zuckerfabrik gefahren zu werden.
Ich krame meinen Lesevorrat hervor. »Unser Gedächtnis lügt«, schreibt eine Autorin in »Zeit-Wissen«. Sicher stimmt das. In meiner Erinnerung verklären sich selbst Bahnfahrten, die mich in den Wahnsinn getrieben haben. Zum Beispiel, wenn ein Regionalzug mit Verspätung in den Bahnhof rollte, während gleichzeitig der noch im Gleis stehende Anschluss-ICE pünktlich abfuhr. Züge der höheren Kategorie warten nicht auf niedere Zubringer. Genau wie bei menschlichen Hierarchien. Auch scheint es, als wären alle Bahnhöfe früher größer und schmutziger gewesen, und als hätte ich bei jeder Fahrt in Kreiensen umsteigen müssen. Das berühmte Eisenbahndorf, in dem sich die alten Ost-West- und Nord-Süd-Achsen treffen, wirkt latent heruntergekommen, obwohl auch dort inzwischen die dunkelblauen Bahnhofsschilder mit weißer Schrift hängen. Aber die Beschriftung ist dieselbe geblieben: man kommt auf Gleis 1 an und fährt von Gleis 101 weiter. Wo sind die anderen 100 Gleise? Kreiensen ist einer der Orte, an denen man nicht tot übern Zaun hängen möchte, wie der Norddeutsche sagt, und doch hat dieser Bahnhof einen besonderen Charme. Erika Mann, eine Abgeordnete im Europaparlament aus Bad Gandersheim, hat sogar den Süßigkeitenautomaten auf dem Bahnsteig fotografiert und das Bild ins Internet gestellt.
Es gibt viele Bahnhöfe, über die ich lange Geschichten erzählen könnte. In Braunschweig steht trotz ständiger Veränderungen nach wie vor eine Modelleisenbahn in einem Glaskasten. Der Hauptbahnhof in Potsdam, auf dem ich 1997 vor lauter Baustelle fast den Ausgang nicht gefunden hätte, ist heute ein komplettes Einkaufszentrum.
Die Regionalbahn erreicht Salzgitter Bad. Ich steige aus. Den Fußweg zu meinem Vater schaffe ich von hier in acht Minuten. Das Bahnhofsgebäude war immer baufällig. Jetzt ist es saniert und an eine Psychotherapiepraxis vermietet. Noch ein kleiner Mosaikstein aus meinem Deutschland.
Es ist nicht mein spezielles Deutschland, weil ich ein Freak wäre, der sich nachts S-Bahn-Videos im dritten Programm anguckt. Ich habe schlicht keinen Führerschein. Mein Reflex, abzulehnen, was alle machen – in diesem Fall Tanzschule und Fahrstunden – hat dazu geführt, Theaterproben in der Schule und Fußballtraining im Verein wichtiger zu finden. Ich bin auf die Mobilität mit dem Zug angewiesen, die Schienenwege, Fahrpläne und Sitzplatzkapazitäten einschränken. Das Auto gaukelt unendliche Freiheit vor, die die Bahn von vornherein ausschließt. Aber ich empfinde das nicht als Mangel.
Vielleicht ist Bahn fahren das letzte sozialdemokratische Molekül in mir, und selbst das wird immer weiter liberalisiert. Auf meinen letzten drei innerdeutschen Dienstreisen bin ich geflogen, statt in den Zug zu steigen.
Dennoch: Ohne die Bahn hätte ich vieles übersehen oder nicht bemerkt. Züge, Bahnhöfe und Reisende, Werbung, Aufkleber, Graffiti-Botschaften, verfallende oder auferstehende Bauten entlang der Strecken – ich würde dieses Land weniger gut kennen. Und weniger mögen. Die Bahn ist der ideale Ort, mittendrin zu sein, ohne mitmachen zu müssen. Ich hätte viele spannende, traurige oder schöne Momente gar nicht oder ganz anders erlebt. Ich bin mit dem Zug zu Vorstellungsgesprächen gefahren, zu Orten, über die ich berichtet habe, zu Beerdigungen, zu Freundinnen, mit denen ich Wochenendbeziehungen führte. Und nach Göttingen, um dort einen Tag später die Frau zu heiraten, die ich liebe. Wer sich für einen Zug entschieden hat, verpasst unendlich viele andere. Aber wer den richtigen Zug nimmt, wird am Bahnsteig erwartet.