29.03.06

Tobias Kaufmann

Der Feind von nebenan

Nachbarn haben zwei Nachteile: Sie sind Menschen. Und sie wohnen zu nah dran.

Unsere Nachbarn sind verrückt. Es gibt wohl keinen Bewohner einer deutschen Großstadt, der diesem Satz nicht zustimmen würde. Das liegt daran, dass allen Nachbarn ein grundsätzliches Problem gemein ist. Sie sind Menschen. Und sie wohnen zu nah dran.

Zum Beispiel die verhuschten Junggesellen, die in ihren kleinen Erdgeschosswohnungen heimlich ihren sexuellen Neigungen nachgehen, ohne zu bedenken, dass man sie vom Garten aus sehen kann, wenn sie im Gummioutfit auf dem Sofa knien. So einen hatten wir mal nebenan. Ansonsten war er nett, er hat uns fürs Streichen beim Auszug seine Leiter geliehen. Dann gibt es jene Anrainer, die sich gegenseitig wegen ungemähter Rasenflächen, plappernder Papageien und Maschendrahtzäunen vor den Kadi zerren und hoffen, dass endlich das Privatfernsehen vorbei kommt, um sie im ganzen Land berühmt (und lächerlich) zu machen.

Mein lieber Kollege Hannes Stein hat »Nachbarn« einen eigenen Eintrag in seiner großartigen »Enzyklopädie der Alltagsqualen« gewidmet. Er unterscheidet darin vier Spezien. Erstens die erwähnten »kleinlichen Spießer«, die sich wegen einem Kinderwagen im Korridor bis zum Oberlandesgericht hochklagen. Zweitens »peinliche Barbaren«, die kiffend und ungewaschen Tag und Nacht Lärm machen, ansonsten aber harmlos sind. Solche hatte ich in jeder meiner drei Potsdamer Studenten-WGs über mir, und sie waren tatsächlich harmlos - wenn man davon absieht, dass eine dieser Gemeinschaften eines Nachts von Drogenfahndern zerschlagen wurde. Drittens »gefährliche Irre«, die hinterm Gebüsch hervorspringen, »einem den Arm auf den Rücken drehen« und zischen, man solle nur nicht meinen, er habe nichts gesehen. Und viertens stille »Selbstmörder«, die nie ein Problem darstellen, »bis eines Tages jener süßlich-faulige Geruch durchs Treppenhaus zieht, der von einer Katastrophe kündet«.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Sympathische Menschen, die Kinder in einem ähnlichen Alter haben wie man selbst; die einem Kamillentee leihen, wenn man welchen braucht; die man gerne mal für einen Abend zum Wein einlädt. In unserem Nachbarhaus leben solche Menschen. Wir teilen uns den Garten und unsere Kinder teilen sich die Windpocken. Wir wissen diese Familie sehr zu schätzen, denn gute Nachbarn sind nicht sehr häufig. Es gibt sie so zahlreich wie aufgeklärte Pazifisten bei der Hamas.

Unsere sonstigen Nachbarn sind eine gefährliche Mischung aus den bekannten üblen Sorten. Und sie verfolgen uns, von Wohnung zu Wohnung. Sind wir der einen Haushüterin Marke Blockwart durch Umzug entkommen, lauert im neuen Domizil garantiert eine verschärfte Variante.

Als meine Frau und ich in Berlin zusammenzogen, mieteten wir, ohne es zunächst zu wissen, ausgerechnet eine Wohnung, die Gerhard Frey gehört - dem Besitzer der rechtsextremen DVU. Unter uns wohnte eine alte Dame, eine Mischung aus Hausmeisterin und Horchposten. Mehrmals in der Woche kam sie schnaufend aus ihrer mit braunem, fadenscheinigem Teppich ausgelegten Bude zu uns rauf geklettert und klingelte. »Nicht böse sein«, sagte sie immer zur Begrüßung, so als würden wir sie schlagen. Dann wies sie uns auf ein angebliches Fehlverhalten eines Hausbewohners, eines Handwerkers oder eines zufälligen (ausländischen, kriminellen) Passanten hin, das vollkommen uninteressant oder reine Spekulation war. »Frau G. deckt Skandale auf«, nannten wir diese Besuchsreihe an unserer Tür. Die Skandale entdeckte Frau G., indem sie durchs Schlüsselloch in den Flur horchte oder übers Fensterbrett hing, auf das sie sich - offenbar als Gesprächspartner - zwei Plastikwellensittiche geklebt hatte. Mag sein, dass es solche devoten Denunzianten überall gibt - aber höchst selten haben sie einen vierzigjährigen, kettenrauchenden Sohn mit Vokuhila-Frisur und einem Hang zu Bermudahemden, der immer noch bei Mutti wohnt und scharf auf meine Frau ist.

Über uns wohnte eine Frau mit drei lärmenden Söhnen, die Namen wie »Norman-Uwe« trugen. Außerdem hatte sie eine Waschmaschine, von der sie sich partout nicht trennen wollte, obwohl sie zweimal im Jahr in unsere Küche auslief. Noch eins drüber wohnte ein junger Mann, der links, progressiv und hipp aussah. Eines Tages klingelte er, hielt mir eine Gummi-Fußmatte vors verdutzte Gesicht und brüllte ansatzlos: »Mir reicht's mit eurer Scheiß Katze. Immer diese Katzenpisse hier im Haus. Sperrt das Vieh gefälligst ein!« Ohne zu erläutern, seit wann wir uns duzten, rauschte der pseudo-progressive Reaktionär ab. Dass unsere Katze vollkommen unschuldig sein musste, weil sie unsere Wohnung schon seit mindestens einem Monat nicht mehr verlassen hatte, ließ er ebenso wenig als Argument gelten wie die Tatsache, dass die feuchte Fußmatte lediglich nach gewöhnlichem Schuhtropfwasser roch.

Kurz danach sind wir umgezogen. Die allein erziehende Frau, die jetzt rechts neben uns wohnt, hat ihrem Kind zum dritten Geburtstag ein Schwein geschenkt. Ein lebendes, quiekendes, armes Schwein in einer 2-Zimmer-Wohnung in Berlin.

Der Nachbar zu unserer Linken hasst uns. Als wir im Sommer einmal draußen saßen, und unsere Tochter für einige Sekunden versehentlich in seine Gartenparzelle eingedrungen war, kam er mit rotem Kopf aus dem Keller gestürmt und brüllte: »Haben Sie immer noch nicht genug? Muss es auch noch mein Garten sein?« Dann stürmte er wieder rein. Ansonsten bleibt er höflich. Er achtet als pensionierter Müllmann darauf, wie wir unsere Abfälle sortieren. Zugleich prahlt er damit, heimlich seinen Gartenschnitt ganz unten in unsere Tonne zu schichten. Er versteht sich glänzend mit dem älteren Ehepaar, das sich hinter unserem Rücken regelmäßig bei der Hausverwaltung über uns beschwert, weil wir in unserem (!) Garten - wegen dem sie ganz gelb sind vor Neid - den Baum beschnitten haben und den Grill in ihrer Sichtachse stehen lassen.

Rechts über uns lebt eine Frau mit einem sehr empfindsamen Gehör. Als ich an unserem ersten Abend in der neuen Wohnung Gardinenstangen anbrachte, klingelte sie. »Oh, Sie sehen ja gar nicht so schlimm aus, wie es sich anhört«, sagte sie zur Begrüßung. Sie hört sogar, wenn wir Türen schließen und behauptet gern, wir täten dies mit Vorliebe - und ausdauernd - nachts um drei. Damit die Frau trotz unserer Altbaufenster wenigstens mal einen Tee trinken kann, ohne vor Schreck vom Stuhl zu fallen, wenn wir lüften, hat sie uns kürzlich Filzschoner für Fenster- und Türrahmen empfohlen. Meistens kommt sie aber nicht persönlich runter. Lieber tut sie irgend etwas, das unsere Wände erzittern lässt und sich anhört, als sei eine kleine Fliegerbombe in ihre Wohnung eingeschlagen, um uns auf den unerträglichen Lärm aufmerksam zu machen, den wir aus ihrer Sicht produzieren.

Ohnehin scheint Geräuschempfindlichkeit in unserem Haus zu grassieren. Der Nachbar links über uns, der seine betont lockere Art am Wochenende dadurch symbolisiert, dass er statt in seinen Sparkassen-Anzug in penibel gebügelte Jeans schlüpft, hat ebenfalls fantastische Ohren. Neulich beschwerte er sich bei der Nachbarin rechts neben uns, dass er nachts kein Auge zu bekomme, weil deren Katze im Garten so laut bimmele: Die Katze hat eine winzige Glocke um den Hals, damit sie keine Vögel fangen kann. Erstaunlich ist, dass Menschen, die aus dem Schlaf schrecken, wenn jemand im Viertel eine Nuss knackt, sich ausgerechnet eine Wohnung in einem Haus mit dutzenden Mietparteien suchen, mitten in Deutschlands größter Stadt, in Fußnähe zu einem Flughafen. Warum ziehen die nicht aufs Land?

Das gemeine an feindseligen Nachbarn ist, dass man genau weiß, wie man sie sich zu Freunden machen könnte. Man müsste nur einmal im Sommer bei ihnen klingeln und sie zum Grillen einladen. Aber wem, außer vielleicht dem Dalai Lama, wäre dieser Preis nicht zu hoch? Andererseits: Jeder von uns ist Nachbar von irgend jemandem. Hannes Stein weist in seiner »Enzyklopädie« vielleicht auch deshalb darauf hin, dass die Bibel uns befiehlt, alle Nachbarn unterschiedslos zu lieben. Aber das ist wirklich zu viel verlangt.