Was gehört zu einem gepflegten Fußballspiel? Tobias Kaufmann stellt rechtzeitig zur WM jeden Tag je ein wichtiges Element auf kolumnen.de vor: Elf Gebote für Fußballfans und solche, die es werden wollen.

30.05.06

Tobias Kaufmann

Die Elf Gebote
Gebot 1: Rasen

Wer je unter Israels sengender Sonne gekickt hat, weiß: man kann auch auf Sand spielen. Wäre da nicht der Staub, der in den Lungen beißt, wenn es heiß und trocken ist, der zwischen den Zähnen knirscht und als Schleim in der Waschmaschine zurückbleibt.

In Berlin dagegen haben sich die Bezirkssportämter auf Kunstrasen spezialisiert. Stumpfer, grüner Teppich, auf Beton geklebt. Noch Tage später erinnern taube Gelenke an jeden Sprint und brennende Schürfwunden an jeden Sturz. Noch schlimmer sind Ascheplätze. Der Name täuscht. Solche Plätze bestehen aus rotem oder grauem Schotter, der sich ins Fleisch reibt, wenn man fällt. Mein Vater, der einmal ein gefürchteter Stürmer war, hat noch heute kleine Löcher in der Stirn von den vielen Kopfstößen gegen Steinchen-verklebte Bälle. Den Ascheplatz hat der Teufel erfunden.

Den wahren Untergrund für das Spiel der Spiele aber schuf der Herr selbst. Am zweiten Tag, nach Himmel, Wasser und Erde. »Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut...« (1. Buch Moses 1, 11). Gras, oder Rasen, ist etwas Mystisches. Nie wurde ein Asche- oder Kunstrasenviertel Legende. Rasenstücke aber werden nach besonderen Spielen feinsäuberlich heraus gestochen, in Kunststoffblöcken versiegelt und wie Reliquien verkauft. Wird die saftige Grasnarbe im Eifer des Spiels aufgerissen, drückt der wahre Fußballer das Grün zärtlich in eine Mulde zurück. Gar heilig war angeblich der Rasen, der im Wembleystadion verlegt war.

Jedesmal, wenn ich auf dem Weg zum Fußballspielen bin, träume ich davon, heute den perfekten Rasen zu betreten. Die Erde ist angenehm kühl, nicht kalt, und gibt unterm Finger nach. Die Halme verströmen einen betörenden Frühlingsduft, der im Hals kribbelt und das Herz pochen lässt. Das Gras ist ungefähr fünf Zentimeter lang. Gleichmäßig. Satt grün. Weich. Feucht, aber nicht pitschnass. Frisch gemäht. Ein paar Halme bleiben am Ball kleben, sobald er über sie rollt. Dieser Rasen verschluckt unsere Schritte. Selbst eine Grätsche auf ihm ist nur ein sanftes »Rschhhhht«. Haut, die über dieses Gras schlittert, bleibt unversehrt und fühlt ein wohliges Prickeln.

Natürlich gibt es diesen Rasen nicht oft. Meist stolpert man über löchrige Äcker. Erdige Rasenstücke kleben an den Schuhen. Andere Plätze sind zu kurz gemäht und stechen wie Nadelkissen. Im Sommer hoppelt der Ball auf knochentrockenen Wiesen, und im Winter verderben knüppelhart gefrorene Böden Ball und Spielern die Laune. Aber auch diese Plätze lieben wir, schließlich brauchen Fußballer eine gute Ausrede, wenn der dritte einfache Pass in falsche Füße gespielt wurde. »Platzfehler«, »Ich bin weggerutscht« – der perfekte Rasen dagegen entlarvt die eigene Unzulänglichkeit ohne Gnade.

Ohnehin ist der Untergrund ein Abbild jener, die auf ihm spielen. Auch Menschen neigen zu Warzen, fettigem Haar und faltigen Hälsen. Und doch träumen wir alle von den wenigen, die perfekt sind, davon, dass »Einöde und Wildnis gesättigt werden und das Gras wächst« (Hiob 38, 27). In Psalm 103 heißt es: »Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras.« Wer hätte etwas Ähnliches je über einen Kunstrasen in Berlin-Wedding gelesen?

Was gehört zu einem gepflegten Fußballspiel? Tobias Kaufmann stellt rechtzeitig zur WM jeden Tag je ein wichtiges Element auf kolumnen.de vor: Elf Gebote für Fußballfans und solche, die es werden wollen:

Gebot 1: Rasen | Gebot 2: Trikots und Schuhe | Gebot 3: Aberglaube | Gebot 4: Der Ball | Gebot 5: Fans | Gebot 6: Trainer | Gebot 7: Teamgeist | Gebot 8: Tore | Gebot 9: Taktik | Gebot 10: Schiedsrichter