31.12.08

Tobias Kaufmann

Same procedere ...

Diese Fragerei, damit fängt es schon an. Jedes Jahr dasselbe. »Was machst Du an Silvester?« Solange man noch als jung gilt, muss man mindestens drei Partys im Antwort-Köcher haben, von denen eine am Brandenburger Tor stattfindet. Oder man muss einen Pfeil Verrücktes abschießen: »Ich zelte bis Neujahr allein mit Halle Berry im Himalaja.« Keinesfalls darf man sagen: »Mir egal.«

Dabei ist das für mich die einzige ehrliche Antwort. So wie auf der Postkarte, die bei uns im Gästebad hängt. Ein Radfahrer donnert bergab auf einen Stahlträger zu, den zwei Bauarbeiter tragen. Der Radfahrer kreischt: »Ich hab keine Bremse! Ich hab keine Bremse! Ich hab keine Bremse!« Der eine Bauarbeiter antwortet: »Mir egal! Mir egal! Mir egal!«

Dieses Brimborium, das um den letzten Jahres-Tag gemacht wird, das macht Silvester schon unsympathisch, bevor es überhaupt angefangen hat. Genauso wie die Böllerei, die immer schon drei Tage vorher startet. Die paar Stunden könnten deutsche Großstadt-Halbstarke nun wirklich auch noch an der Playstation sitzen bleiben – aber nein, plötzlich, kurz vor Jahresschluss, da zieht es sie an die Luft, da müssen sie ihre Gefechte plötzlich draußen austragen. Mit chinesischer und polnischer Pyrotechnik, vor der seit Mitte Oktober in jeder verdammten Fernsehsendung ausführlich gewarnt worden ist. Genau wie einem ständig die Bedeutung idiotischer Rituale wie Bleigießen, vom Stuhl springen und eben der Knallerei nahegebracht wird. Also all dieser heidnische Mist von wegen »Glück erzwingen« und »böse Geister vertreiben«. Es gibt keine bösen Geister, es gibt nur böse Menschen. Und davon eine Menge. Etwa die Hälfte von ihnen bestreitet das skandalös schlechte Fernsehprogramm, mit dem man jedes Jahr an Silvester gefoltert wird.

Schlimmer als die Böllerbanden sind nur die Pädagogen. Menschen, die nicht einfach aufs Feuerwerk verzichten können, sondern einen von ihrem Verzicht ausführlich in Kenntnis setzen müssen, nebst Beweggründen – Hunger in der Welt, Pazifismus, Mitleid mit Haustieren, denen der Lärm Angst macht. Aber das reicht ihnen nicht, nein, dann kommt als vernichtender Schlag noch ungefragt der gute Vorsatz. »Nächstes Jahr lebe ich ökologischer.« Wo ist Artilleriebeschuss, wenn man ihn braucht?

Artillerie an Silvester? Gott behüte! Man sollte vom lauten Schein nicht auf das leise Sein schließen. Denn an Silvester haben wir uns ja alle lieb. Das ist besonders unerträglich. Dieser Gute-Laune-Zwang. Auf Silvesterparties sind grundsätzlich zu viele Menschen. Sie sind grundsätzlich zu fröhlich (oder tun so), und ab einem speziellen Zeitpunkt sind sie eindeutig zu betrunken. Der Slogan »Guten Rutsch!«, der direkt nach »Mahlzeit!« kommt, entfaltet dadurch seine einzige Bedeutung. Kurze Zeit später fallen viel zu viele gut gelaunte, besoffene Menschen unangenehm auf, indem sie zum Beispiel Bushaltestellen vollkotzen – aber, hey, es ist doch Silvester, nehmen wir es nicht so krumm.

Wenn es einen Ort und eine Zeit gibt, zu denen es mich drängt, ganz allein mit dem Rücken an der Heizung zu sitzen, dann ist das eine Silvesterparty. Silvester ist eine Nacht zum Decke über die Ohren ziehen. Oder zum die-Nacht-durch-Computerspielen. Kurz: Zum Muffeln. Die allgemeine Heiterkeit zwingt dazu mindestens genauso wie die Tatsache, dass schon wieder ein Jahr vorbei, schon wieder unendlich vieles nicht gelungen und die kalte, dunkle Kiste schon wieder eine Ziffer näher gekommen ist. Mir ist schleierhaft, was daran ein Grund zum Feiern sein soll.

Seit einigen Jahren beginnt für viele Leute das Saufen mit Laufen. Silvesterläufe sind tierisch angesagt. Im Internet habe ich gelesen, dass der längste deutsche Silvesterlauf angeblich über ein »15 km langes Teilstück der Bundesstraße 1 von Werl nach Soest« führt. Wenn man ein Außerirdischer wäre und nicht mehr über Silvester wüsste als diesen Satz – es würde schon reichen.

Der Morgen danach, das ist das einzige, was zählt.

Was machen Sie eigentlich an Silvester?