10.02.00

Lutz Kinkel

Talking to Dagmar B.

Schon mal mit Dagmar B. im Hotel gewesen? Nein? Ich traf sie im Continental. Um ein Interview mit ihr zu führen. Doch Dagmar B. gibt keine Interviews. Sie spricht. Kurze Sätze. Reines Hochdeutsch. Klar, präzise und verständlich. Nach 45 Sekunden beendet sie ihre Aussage. Ihre Augen verraten nichts.

Rund 100 Heiratsanträge hat sie bekommen. "Aber das ist nur eine Bestätigung, dass einen die Menschen sympathisch finden." Tausende furchtbare Meldungen verlesen. "Aber weitermachen muss man." Als Schülerin mit Volker Rühe geflirtet. "Wir sind Händchen haltend durch den Wald spazieren gegangen. Man war damals viel mehr Kind."

Nach einer Stunde verknoteten sich meine Finger. Meine Seele schrie nach einem ungebändigten Gefühl. Unwillkürlich riss ich mir die Kleider vom Leib, stieg auf den kleinen Kaffeetisch vor uns und brüllte, ekstatisch gestikulierend, Arbeiterlieder.

Ruhig sah mir Dagmar B. in das entblößte Gesicht. "Jeff, Sie werden sich verkühlen." Ein Hoteldiener lief herbei und warf eine Decke über meine Schultern. Ich schrie ihn an, dass er sich verpissen solle. Im Hintergrund zerschnitten Polizeisirenen die Luft. Das Letzte, was ich hörte, war eine wohltönende, dunkle Frauenstimme. Sie sagte: "Das war meine letzte Sendung." Dann wurde es dunkel.

Als ich wieder aufwachte, sah ich von meinem Klinikbett aus das große, weiß gerahmte Fenster in der Wand. Dahinter stand das klare, ruhige Blau eines Januartages. Kein Wölkchen, kein Regentropfen, kein Sonnenstrahl. Einfach zu perfekt, um wahr zu sein, dachte ich.

Jeff


P.S.: Irgendwann kam mein Pfleger herein, griff zur Fernbedienung und stellte die "heute"-Sendung ein. Die sei jetzt sehr populär, sagte er.