Lutz Kinkel

Russendisco

Zumindest mein Onkel war bei der Bundeswehr – und zwar geschlagene 12 Jahre lang. Und selbstverständlich war er überzeugt, dass seine zivildienstleistenden Neffen vaterlandslose Gesellen seien, denen das Recht auf Rheinlandbeheimatung und Nutellabrotvertilgung ersatzlos gestrichen werden sollte. Schließlich würden wir verwöhnten Spustel ja auch keinen Finger krumm machen, "wenn der Russe kommt" (wobei man zu unserer Ehrenrettung sagen muss, dass wir mit einem Russen schon fertig geworden wären – wir hätten ihn einfach mitfeiern lassen).

Wie es die Weltgeschichte so wollte, ist der Russe ohnehin nie gekommen, zumindest nicht, um unser schönes Wiesbaden zu knechten. Zwar weilten im 19. Jahrhundert ein paar reiche russische Familien zur Kur und Fjodor Dostojewski verzockte seinen Literatenlohn in der Spielbank. Im 20. Jahrhundert waren diese Qualitätstouristen jedoch schon nicht mehr anzutreffen. Stattdessen machten sich die Amerikaner breit und stampften rund um Wiesbaden Militärstützpunkte aus dem Boden. Auf Volks- und Nachbarschaftsfesten dickten sie uns Kinder mit Hamburgern, Softeis und Grape-Soda an, aus den Mülltonnen vor ihren Kasernen fischten wir viele schöne Pornoheftchen. Ja, tatsächlich: Damals hatten die USA noch etwas mit Aufklärung zu tun.

Diese Zeiten sind seit George W. Bush bekanntermaßen passé, und umso bedenklicher muss es uns stimmen, dass die Amerikaner einen derart massiven Einfluss auf den deutschen Medienmarkt und damit auf die Meinungsbildung gewinnen. Haim Saban hat bekanntlich ProSiebenSat.1 gekauft, Bill Clinton soll an 9 Live interessiert sein und jüngst riss sich Viacom, der Mutterkonzern des Musiksenders MTV, seinen deutschen Konkurrenten Viva unter den Nagel. Nun gibt es, wie zu den Urzeiten des deutschen Privatfernsehens, nur noch einen Player, der die Kids mit Musik, Trends und Klingeltönen abfüttert – das Poplaboratorium VIVA, das immerhin Talente wie Stefan Raab, Heike Makatsch und die Fantastischen Vier groß gemacht hat, existiert nicht mehr.

Es heißt, dass sich einige radikale Nostalgiker bereits bei der MTV-Show "I want a famous face" angemeldet haben, um ihr Gesicht nach dem Vorbild des ehemaligen Viva-Chefs Dieter Gorny ummodeln zu lassen. Der Ausdruck, den Gorny gewöhnlich zur Schau trägt – heiteres Philosophentum trotz katastrophaler wirtschaftlicher Lage – gilt als ungemein zeitgemäß. Übrigens auch in Russland.

Diese Kolumne ist Teil von "Ich glotz TV (Teil II)".