26.12.05

Lutz Kinkel

Plätzchen für den Frieden

Es gibt Misshandlungen, die sind subtil. Sehr subtil. Heute zum Beispiel aß ich aus der Sperrholzkiste, in die meine Mutter Weihnachtsplätzchen gepackt hat. Sie hatte noch eine Serviette obenauf gelegt, damit sie sich beim Transport quer durch Deutschland nicht verkrümeln. Das alles klingt sehr liebevoll. Aber: Freunde, was musste ich sehen! Schon wieder neue Plätzchenkreationen! Völlig unbekannte Raumschiffe mit Schokoladen-Mandel-Applikationen! Außerdem bräunliche Frisbees mit gewölbten Rändern, die ein eigentümliches, nie da gewesenes Mundgefühl erzeugen! Der Höhepunkt waren jedoch Weihnachtsmänner mit Schokoladenrücken. GEKAUFTE SCHOKOMÄNNER! Ja, wo sind wir denn? So kann ich nicht arbeiten.

Vor ungefähr drei Jahren – ich weiß nicht, ob meine Eltern was getrunken hatten oder uns die Pubertät heimzahlen wollten – stellten sie den Weihnachtsbaum um. Nach zwanzig Jahren. Einfach so. Er stand nun nicht mehr links neben dem Durchgang zum Esszimmer, sondern rechts neben dem Eingang zum Wohnzimmer. Natürlich hatten sie ihn in alter Tradition geschmückt. Mit Strohsternen, kleinen Engelchen und putzigen Lämpchen. Aber uns Kindern macht man nichts vor. Wir bemerkten den Betrug sofort. Das Donnerwetter war furchtbar. So geht es einfach nicht.

Aber meine Eltern werden mit zunehmendem Alter immer ungezogener. Neulich kauften sie sich ein neues Sofa. In einer neuen Farbe. Schwarz, Leder. Außerdem einen neuen Schrank, der sich nun über die gesamte Seitenwand des Wohnzimmers erstreckt. Darin stellen sie Dinge auf, die ich noch nie zuhause gesehen habe: kryptische Trockengewächse aus fernen Landen, gläserne Skulpturwerke, CDs. Die alten James-Last-Platten haben sie vermutlich einfach weggeschmissen. Auch der Setzkasten wurde wortlos entsorgt. Entschuldigung: Ist das noch meine Heimat? Bin ich Mensch, wo darf ich sein?

Sie wissen nicht, was sie tun. Glaube ich. Was ahnen sie schon davon, welche Verheerungen sie in den unschuldigen Seelen anrichten mit ihrem permanenten Drang nach Novitäten! Dieser haltlosen Sucht nach Veränderung und Abwechslung! Es ist den Menschen in dieser Ömmelbömmelwelt eben nicht mehr gegeben, in stiller Andacht die Tradition zu wahren. Feiert man nicht seit 2000 Jahren Christi Geburt? Immer wieder am selben Tag? Und stellt man nicht seit Menschengedenken Plastikschafe in Hüttchen, um das Ereignis zu illustrieren? Ja, so ist es. Und es ist gut so.

Ich werde mich für meinen Teil strikt an die Tradition halten. Also völlig entnervt aus einem völlig überfüllten Zug aussteigen und mich vom Bahnhof abholen lassen. Zuhause werde ich peinlich darauf achten, dass mein Bett schon bezogen ist und dann meine Schmutzwäsche abgeben. Seit ungefähr zwanzig Jahren bringe ich sie in den Keller, wo die Waschmaschine steht. Dort zaubert das Christkind ein bisschen, und sie liegt wieder gebügelt im Schrank. Natürlich werde ich am 24sten durch die Innenstadt hetzen, um Geschenke einzukaufen, leider aber nichts finden, weil ich Freunde am Glühweinstand treffe. Abends gilt es dann etwas hilflos in der Küche herumzustehen und wortkarg Hilfe anzubieten, bis man endlich höflich herauskomplimentiert wird. Das verschafft Gelegenheit, sich mit dem untätigen Rest der Familie die traditionellen Weihnachts-Blondinen-Witze zu erzählen (auch wenn wir nun auf dem NEUEN SOFA sitzen müssen!). Ich hoffe, dass meine Mutter bis dahin weisungsgemäß Nusskipferl und Spritzgebäck gefertigt und ordentlich auf einem Glasteller arrangiert hat. Ich habe ihr eine Excel-Tabelle zukommen lassen, in der fein säuberlich notiert ist, was sich so zu Weihnachten gehört.

Gerne werde ich dann, wenn der Baum richtig steht, von meinen neuen Lieblings-SMSen erzählen. Sie lauten: »Maritta ist ein Tanztalent« und »Ich werde diese Woche nicht ohne Leberschaden überstehen.« Und endlich wird Frieden sein.