17.07.07

Sebastian Klug

Neues vom Schwager: Die Entschwagerung

Markus, der kleine Bruder meiner nunmehr Ex-Freundin, hat das Down-Syndrom. Und trotzdem steht der Ex-Schwager oft über den Dingen. Und erklärt sich und allen anderen die Welt auf seine ganz eigene Weise.

Als Markus' Schwester und ich und zusammenkamen, ging alles verhältnismäßig schnell. Der Winter stand vor der Tür, und vielleicht hatten wir beide das Gefühl, uns noch ins Warme retten zu müssen. Binnen weniger Minuten schienen wir wie die ältesten Freunde, nach wenigen Tagen wollten wir keine Minute mehr ohne einander verbringen. Nach einigen wenigen Wochen schließlich wagte ich den ersten Schritt auf ihre Familie zu – ich lernte Markus kennen.
Wir brachten ihm einen Döner vorbei und ich erfreute ihn mit meiner kulinarischen Gesellschaft, zu der seine vegetarisch lebende »Gemüseschwester«, wie er sie gerne nannte, nicht in dem Sinne imstande war. Als wir uns anschließend auf der Couch sitzend männlich die Bäuche rieben, fragte er mich aus.
»Haben Sie eine Freundin?«
»Wir hatten uns doch auf ›Du‹ geeinigt, oder?« versuchte ich ihn grinsend zu verbessern. »Aber ja, ich habe eine Freundin.«
»Wie heißt sie?«
»Sie heißt Sandi«, sagte ich und lächelte glücklich.
Markus schaute seine Schwester erstaunt an, dann mich, dann wieder sie, begriff, dass es wirklich um sie ging, lachte ein kehliges Lachen in meine Richtung und rief mir zu: »Gratuliere!«.
Zu ihr gewandt fügte er hinzu: »Und lass ihn nicht wieder abblitzen!«

Als nach zwei Wintern der sonnigste Frühling seit langem begann, versuchte mir Sandi unmissverständlich beizubringen, dass die Liebe nicht mehr da sei.
Für mich brach eine Welt zusammen, ein gedankliches Reihenhaus wurde in wenigen Augenblicken abgerissen, samt plötzlich leer stehender Kinderbetten. Unser gemeinsamer Hund hatte sich ohne ein Bellen aus dem Staub gemacht und wildfremde Menschen kutschierten plötzlich auch die gemeinsamen Autos durch die Stadt. Das vielleicht Schönste in meinem Leben fühlte sich an, als wäre es die Gesamtheit meines Lebens gewesen – und war plötzlich nicht mehr existent.

Nach einigen Wochen hatten wir wieder Kontakt. Spärlich. Beschnupperten uns, zeigten uns offen, wie sehr wir uns vermissten. Und hielten uns auf dem Laufenden, wie sich unser jeweiliges Leben so entwickelte.
An einem Nachmittag erzählte sie mir, dass sie Markus endlich von unserer Trennung erzählt habe. Er sei außer sich gewesen, erzählte sie, und ich konnte es mir bildlich vorstellen. Nie wieder werde er den heiligen Sebastian sehen können, sagte er, und schuld sei sein Schwesterherz.
Als wir uns dann an einem Montag im April in der Stadt trafen, setzten Markus und ich uns nebeneinander an einen Brunnen. Er schaute mich lange mit großen Augen an, und nach einigen Minuten nahm er wortlos meine Hand.
»Markus, auch, wenn Dein Schwesterherz nicht mehr meine geliebte Freundin ist, sind wir zwei doch immer noch Freunde, oder?« Er nickte kurz und ich versprach ihm, möglichst bald etwas mit ihm zu unternehmen.

All das Beschnuppern half nichts: sie konnte die große Liebe nicht mehr finden. Dass ich zur selben Zeit eine Stelle in einer anderen Stadt antrat, war Fluch und Segen zugleich – denn auch, wenn der Abstand mir gut tun würde: ich ließ einiges zurück in dieser Stadt. Unter anderem Markus. Dem ich – so schwer das auch sein mochte – noch eine Unternehmung schuldig war.

Einige Wochen vor meinem Umzug rief ich also bei seinen Eltern an und vereinbarte ein Treffen in der darauf folgenden Woche.
Wir trafen uns mittags auf einem Parkplatz, Markus' Mutter wollte einige Erledigungen machen und wir wollten uns einige Burger zum Mittagessen holen. Auf dem Weg zum Essen hüpfte Markus fröhlich neben mir her.
»Du bist jetzt wieder glücklich, oder?« fragte er, nachdem er wenige Minuten zuvor mit bebender Stimme unsere Verabredung als »Abschiedsdate« bezeichnet hatte.
»Ja, es geht mir gut«, versuchte ich diplomatisch die Tatsache zu beschreiben, dass das Treffen mit ihm doch einiges aufriss – mich aber dennoch wirklich freute.
»Du bist glücklich. Du hast sie jetzt endlich vergessen, oder?« bohrte Markus weiter.
»Ich werde sie nie vergessen, dazu hab' ich sie doch viel zu lieb«, erklärte ich ihm.
»Doch, vergiss sie, weil schau, jetzt sind wir alle wieder solo«, führte er inbrünstig aus, und erklärte ihm nächsten Satz, dass er – sozusagen aus Solidarität – mit Verena Schluss gemacht habe, um auch wieder Single zu sein.

Bei der Bestellung unserer Burger wähnte ich mich in Sicherheit, dass das Thema jetzt vom Tisch sei. Wir unterhielten uns auf dem Weg zum Dessert-Eis über Fernsehmagazine, wobei er mich bat, ich solle, wenn ich jemanden vom Fernsehen treffe, doch bitte der neuen Moderatorin der Wissenssendung Galileo ausrichten, sie sei eine »Elefantenziege« und ihr männlicher Kollege sei weitaus hübscher. Anschließend ging es noch um diverse Fernsehserien und die Übertragung der »Life Earth«-Konzerte.

Auf dem Rückweg zum Auto schließlich fühlte sich Markus noch einmal gemüßigt, über unsere gemeinsame Vergangenheit zu sprechen.
»Es war so schön, wir drei zusammen in der Disco«, sagte Markus mit einem Seufzen. Und legte nochmals nach: »So schön. Wir drei.« Er sprach mir aus der Seele. Es war wunderschön gewesen. Aber es war nun mal vorbei.
Und als könnte er meine Gedanken lesen, schaute er mich mit ernstem Blick an.
»Und das ist jetzt vorbei. Ich habe es Dir ja gleich gesagt, aber Du wolltest nicht auf mich hören!«
»Was denn?« fragte ich verwundert.
»Was ich Dir gesagt habe. Du hast es mir nicht geglaubt.«
»Was denn, Markus?«
»Ich habe es Dir gleich gesagt: sie lässt Dich abblitzen. Das macht sie immer so.«
Für einen Moment schossen mir die Tränen in die Augen. Der kleine Kerl hatte es also gewusst. Oder nur vermutet. Oder gespürt. Was unwichtig ist, denn in jedem Fall hatte er recht behalten.
»Ja. Da hattest Du wohl recht«, sagte ich kurz und schluckte die Tränen herunter.

Als wir uns an diesem verhältnismäßig kühlen Sommertag verabschiedeten, sagte Markus nicht mehr allzu viel. Ich habe ihm erzählt, dass München eine sehr schöne Stadt sei und dass er mich gerne mal dort besuchen kommen solle. Und dass er mir vor allem auch einen Brief schreiben solle.
Er war nicht still, weil er traurig war. Er war lediglich still, weil er fernsah. Es gab keinen Grund für ihn, traurig zu sein.
Denn auch wenn wir keine Schwager mehr sind; Freunde bleiben wir ja wohl.