23.03.07

Sebastian Klug

Kinnkumpane

Wie viele andere Frauen habe auch ich Zonen an meinem Körper, die ich nicht liebe, die ich nicht (wie meinen Bauch) akzeptieren und auch nicht (wie meine Schenkel) durch gesunde Ernährung regulieren könnte. Was also vielen anderen Frauen ihre Nase, die Form ihres Hinterns oder die Festigkeit ihres Busens ist mir meine Kinnpartie.

Im Fachjargon handelt es sich beim Übergang meines Gesichtes zur Brust um ein sogenanntes »fliehendes Kinn«. Gibt man den Begriff in die Suchmaschine Google ein, erhält man als erstes Suchergebnis einen Artikel mit dem Titel »Patientenberichte über die Fettabsaugung Kinn«. Das fliehende Kinn zeichnet sich durch ein Fehlen einer markanten Unterstreichung des Unterkieferknochens aufgrund eines Hautlappens, der sich auf dem kürzesten Weg von der Kinnspitze zum oberen Rand des Brustbeines spannt, aus.

Konfrontiert mit dem Vorhaben, diesen Missstand zu akzeptieren, fand ich vor gar nicht allzu langer Zeit heraus, dass es große Vorbilder in meinem Leben gibt, die dieses Schicksal mit mir teilen. Eines von ihnen ist der Stuttgarter Rapper Smudo, intellektuelles Gemüt der Fantastischen Vier und passionierter Rennfahrer und Kinnträger. Bereits in meiner frühen Jugend war Smudo einer meiner Helden, und so beschloss ich, ihm mein Anliegen in einer E-Mail zu schildern. So schrieb ich ihm im Herbst 2005 unter anderem folgende Zeilen:

»[...] darüber hinaus werde ich tief drin wohl immer ein fan deiner person sein, weil Du das gleichende fliehende Kinn hast wie ich. du weißt schon, diese fehlende kante unter dem unterkiefer. bei mir ist das noch ausgeprägter als bei dir [...]«

Smudos Anwort folgte stehenden Fußes: »[...] ich verstehe – ein guter grund – DER grund – fuer mich gewesen, da einen bart stehen zu lassen – bis ans ende meiner tage [...]«

Auf meinen Einwand, dass das bei mir leider nicht so richtig funktioniere, weil mein Bartwuchs dazu nicht ausreiche, reagierte er leider nicht mehr.

Ein anderer Held jedoch, der mein Schicksal teilt und, wie ich im Nachhinein feststellen durfte, sogar an seinem Kreuz noch ein wenig schwerer zu tragen hat als ich, ist mein Komikeridol Bastian Pastewka. Unlängst hatte ich die Gelegenheit, in ihm Rahmen eines Interviews zu treffen, im Fluchtgang hinter einem Kinosaal.

Wenige Minuten Gesprächszeit, und auf dem Sofa direkt hinter ihm sitzt Oliver Kalkofe und signiert Autogrammkarten. Als ich nach dem Ausschalten des Diktiergerätes bemerke, dass wir noch ein bis zwei Minuten Zeit haben, fasse ich mir ein Herz und spreche ihn auf unsere kleine Gemeinsamkeit an.
»Herr Pastewka, noch kurz in eigener Sache: Wir beide haben ein ähnliches Kinn, hätten Sie da Lust auf ein gemeinsames Foto?«
Herr Pastewka ist einverstanden, beinahe begeistert, und so setzen wir uns für in meiner Wahrnehmung unendliche vierzig Sekunden gegenüber und blicken uns tief in die Augen, während der Fotograf einige Bilder schießt.
»Wissen Sie, ich habe auch schon Smudo in der Sache kontaktiert. Er hat ja ein ähnliches Kinn.«
»Ach?«
Es blitzt.
»Ja, und da habe ich ihn gefragt, was er dagegen macht.«
»Und?«
»Er lässt sich einen Bart stehen.«
Es blitzt abermals. Unbeirrt starren wir uns in die Augen. Herr Pastewka hat sehr schöne, kontrastreiche Augen, fällt mir auf. Und reichhaltige Brauen.
»Ja, genau das mache ich auch gerne. Machen doch Sie das einfach auch!«
»Mein Bartwuchs reicht dazu nicht aus« erkläre ich meinen haarigen Notstand.
»Wie?«
Es blitzt wieder.
»Ich habe keinen richtigen Bartwuchs.«
»Wie, wirklich nicht? Gar nichts?«
»Naja, so einen Flaum.«
Aus dem Hintergrund meldet sich Oliver Kalkofe:
»Oh, das kenne ich! Das ist bei mir genauso!«
Ohne sich umzudrehen oder den Blick von mir zu wenden gibt Bastian Pastewka ihm zeitgleich mit dem vierten Blitzen Recht.
»Der Kalkofe hat Recht, wenn der sich rasieren will, muss er sich nur mit einem trockenen Handtuch das Gesicht abwischen.«
Ich versuche es nochmals zu erklären:
»Wissen Sie, wenn ich mich einmal nicht rasiere, sehe ich aus wie ein türkischer zwölfjähriger Junge mit dem ersten Schnauzbart.«
Kalkofe fühlt sich offenbar verstanden.
»...einen richtigen Bart sieht keiner, aber trotzdem sieht es komisch aus. Und auf der anderen Seite versteht keiner, dass man sich schon wieder rasieren muss!«
In diesem Augenblick endet unser kurzer Fototermin. Wir verabschieden uns und wünschen uns gegenseitig noch viel Erfolg und einen schönen Abend und verlassen das Kino.

Als ich am nächsten Tag das gemeinsame Bild (siehe unten) zu Gesicht bekomme, fällt mir auf, dass meine Kinnlinie leicht nach oben verläuft, während Bastian Pastewkas Linie leicht durchhängt. Allerdings sieht er durch den Bartwuchs um einiges maskuliner aus als ich, hat selbstverständlich keine roten Stressflecken im Gesicht wie ich – offenbar hat er gar nicht begriffen, dass er gerade seinen wahren Kinnkumpanen getroffen hat und ist dementsprechend nicht so aufgeregt wie ich – und sein kurzes, frisch gewaschenes Haar fällt weitaus besser als mein langes, nicht frisch gewaschenes.

Leider kann ich an meinem Bartwuchs nichts ändern. Und auch die Stressflecken werde ich jetzt nicht mehr von dem Bild herunterbekommen (außer ich retouchiere herum – aber wer will das schon?). Aber dafür habe ich meinen wahren Kinnkumpane getroffen. Und das macht mein Kinn dann doch wieder ein kleines Stück wertvoller für mich.

Foto: Bastian Pastewka und Sebastian Klug

Brüder in Geist und Kinnpartie.

Foto: www.altrofoto.de