23.05.14

Sebastian Klug

Ein Standardeingriff. Protokoll einer Nahtoderfahrung in Zeitlupe.

Frauen erzählen sich ja gerne, Männer seien wehleidig, oftmals überängstlich und beizeiten unangebracht dramatisch. Ich selbst würde eher sagen: Wir Männer sind Realisten und Vernunftmenschen. Wir lassen uns nicht von leeren Worthülsen aus aussagebefreiten Statistiken blenden. Wir wissen: Wenn ein Mann betäubt und anschließend mit einem chirurgischen Messer bearbeitet wird, ist der Film gleich zu Ende. Dann kommt nur noch der Abspann. Und in seltenen Fällen ein zweiter Teil, der dann aber bis auf Ausnahmen ziemlich scheiße ist.

Mir selbst wurde das vor wenigen Jahren wieder einmal klar, als ich mich zu einem hochkomplexen und von schwerwiegenden Komplikationen übersäten medizinischen Eingriff gezwungen sah, der mich an meine Grenzen führte. Dies ist ein Protokoll aus dieser Zeit.

Standardeingriff

Standardeingriff

Foto von Dr. Björn Ritscher

22. März 2011

»Das ist ein Standardeingriff«, lügt mich mein HNO-Arzt an, wahrscheinlich, um es mir leichter zu machen, meine restlichen Tage unbeschwert zu verleben. »Es tut, da will ich Ihnen gar nichts vormachen, höllisch weh, aber es lohnt sich, Ihre Mandeln zu entfernen. Die beiden sind riesig groß, total zerfurcht und offenbar auch ein wenig chronisch entzündet.« Und um die ganze Angelegenheit endgültig zu legitimieren legt er nochmals nach, ich müsse wissen, dass »die Mandeln im Erwachsenenalter vollkommen ohne Funktion sind. Im Normalfall bilden sie sich größtenteils zurück, bis das Erwachsenenalter erreicht ist. Bei Ihnen aber eben nicht.«

Zum Arzt gegangen war ich überhaupt erst, weil mein Freund A., seines Zeichens begeisterter OP-Fan, mir nach vier mehrwöchigen Erkältungen geraten hatte, mir meine offenbar überflüssigen und vermaledeiten Mandeln entfernen zu lassen. Das sei ein Standardeingriff, sagt er. Dass ich nicht lache. Und wenn ich an Weihnachten zu früh ins Wohnzimmer komme, erschrecke ich das Christkind. Schon klar.

9. Mai

Meine Freundin Bea sieht etwas mitgenommen aus. Auch sie hatte große Probleme mit den Mandeln, weshalb sich die beiden oralen Lausbuben vor nur zweieinhalb Stunden mit Hilfe meines HNO-Arztes der auch ihrer ist, verabschiedet haben. Als Gentleman habe ich ihr bei dieser OP großzügig den Vortritt gelassen. Dass ich damit auch jemanden habe, der die ganze Angelegenheit für mich austestet, ist ein positiver Nebeneffekt. In den nächsten Tagen verschlechtert sich ihr Zustand subjektiv betrachtet zusehends. Die beiden Zwei-Euro-Stück-großen Wunden im Rachen fordern Ihren Tribut. Dass Bea nicht stirbt und mich zum Witwer macht, hat sie aus meiner Sicht ihrem Glück und meiner liebevollen Pflege zu verdanken: Ich bekoche sie mit milden Suppen, leckeren, weichen Semmelknödeln und frisch aufgewärmten Hipp-Gläschen.

13. September

Nach einer dreimonatigen Reizung meiner Mandeln entscheide ich mich für einen weiteren Besuch beim HNO-Arzt. Seine Aussagen, dass die Mandeln im Erwachsenenalter vollkommen ohne Funktion seien, dass er mir da aber nichts vormachen wolle und das Ganze höllisch weh tue, beendet er abermals mit dem Satz »Das ist ein Standardeingriff«. Was zuvor eine Vermutung war, ist ab sofort ganz klar eine Tatsache: Er lügt. Wahrscheinlich werde ich sterben. Aber mit diesen Halsschmerzen zu leben ist leider auch keine Alternative. Also sage ich zu. Als OP-Termin wähle ich den 7. November. Den goldenen Herbst, sollte er denn kommen, kann ich dann noch mitnehmen, und sollte ich überleben, bin ich unter Umständen an Weihnachten schon wieder fit für die Gans. Ha, und da soll noch jemand sagen, ich wäre pessimistisch oder zu dramatisch!

16. Oktober

Vor mir liegen drei To Dos: Eine vorbereitende Untersuchung beim Hausarzt, eine Vorbesprechung mit dem operierenden HNO-Arzt und ein Gespräch mit der Anästhesistin. Ich frage mich, ob es wirklich so eine gute Idee war, mir gottgegebene Organe von Menschenhand entfernen zu lassen. So schlimm ist das mit den Halsschmerzen bei mir doch gar nicht.

17. Oktober

Ich wache vor meinem Wecker auf. Das ist ungewöhnlich, kommt aber hin und wieder vor – bei Durst, Harndrang oder Schmerzen. Ein kurzer Besuch vor dem Badezimmerspiegel schafft Klarheit: Auf meinen stark geröteten Mandeln finden sich noch rötere Pusteln, die bei jedem Schlucken höllisch weh tun. Und was höllisch weh tut, ist nicht gottgegeben, sondern kommt ganz offensichtlich vom Teufel. Ich beschließe, der Menschenhand doch eine Chance zu geben. Ich lege mich auf die Couch, trinke viel Tee und Wasser und ziehe mir zur Ablenkung noch einmal die letzten vier Staffeln Californication rein. Ziel ist es, meine Angst vor Betäubungsmitteln zu verlieren.

25. Oktober

Blutbild, körperliche Untersuchung und ein EKG – das wäre im Grunde alles, was die Klinik bräuchte. »Das ist ein Standardeingriff«, betont mein Hausarzt bei der Untersuchung, fügt jedoch hinzu, es würde »höllisch weh tun«. Die Frage, ob er meinen HNO-Arzt kenne, verneint er. Zwei Lügen in einer Minute, das stärkt das Vertrauen in die Ärzteschaft ungemein. Die Möglichkeit, dass es neben einer Terror- auch eine zentrale Hypochonderdatei geben könnte, in der alle Patienten, die wie ich die Risiken korrekt einzuschätzen in der Lage sind, kommt mir in diesem Moment nicht in den Sinn. Wobei das ja nur eine der beiden Lügen entkräften würde.

28. Oktober

Langsam werde ich nervös. »Das ist ein Standardeingriff«, sagt mein HNO-Arzt bei der Vorbesprechung zu meiner Beruhigung, ohne zu wissen, dass mein Puls daraufhin sofort nach oben schießt. »Man wird sich gut um sie kümmern im Krankenhaus«. Ich habe alle Folgen der Sopranos gesehen – und weiß daher, was es bedeuten kann, sich »um jemanden zu kümmern«. Wichtig sei einzig und allein, dass ich mich mindestens zwei Wochen vollkommen schone, um Nachblutungen zu vermeiden. Körperliche Ertüchtigung oder Stress würden den Blutdruck erhöhen, was dann wiederum das Blut spritzen lassen würde.

29. Oktober

Ich rufe meine Eltern an und bitte sie, auf sich aufzupassen. Sollte ihnen während meiner Genesungsphase etwas passieren, könnte ich mich nicht um ihre Beerdigung kümmern, da ich Stress wegen der Nachblutungsgefahr unbedingt vermeiden müsse. Ich bitte sie, ihre letzten Wünsche mit meinem Bruder durchzugehen, damit er über alles Bescheid wisse. Meine Eltern lachen mich aus. Ich fühle mich unverstanden und bin zugleich schockiert, dass ich mir noch gar keine Gedanken über mein eigenes Ableben gemacht habe. Nach einer kurzen Recherche beschließe ich, mich verbrennen und aus meiner Asche einen Diamanten pressen zu lassen. Das mag etwas eingebildet klingen, aber ich finde es irgendwie cool. Meine Besitztümer werde ich in einem formlosen Testament unter meinen Freunden verteilen. Mein Freund T. bekommt als alter Rocker meine blonde Fender Telecaster, meinen Freund S. werde ich wahrscheinlich mit meiner Les Paul beglücken. Als Nachlassverwalter setze ich Bea ein. Das Testament werde ich einfach in meine Sockenschublade legen – da wird sie es dann sicherlich bald finden.

2. November

So vieles ist nicht bedacht. Mein HNO-Arzt mag vital wirken, aber was, wenn das alles Einbildung ist? Was, wenn er während der OP verstirbt und nur eine Mandel entfernt? Was hat das für Auswirkungen auf mich? Und was ist danach? Kann ich mit einem Mund voll Blut überhaupt einen Notarzt rufen, wenn die Nachblutung da ist? Gibt es einen SMS-Service unter 110 oder habe ich im schlimmsten Fall ein Jamba Spar Abo gekauft (»Sende jetzt BLUT an die 110!«)?

3. November

Das Gespräch mit der Anästhesistin, besser: das gesamte Thema »Anästhesie« hatte ich bisher nicht auf dem Zettel. Ich versuche, cool und gelassen zu wirken, während mir die für meine Betäubung zuständige Ärztin erklärt, was alles passieren kann. Seltsamerweise spricht sie nur von theoretisch möglichen Zahn- und Stimmbandschäden und lässt die Tatsache, dass sie mich gezielt mit dem, was andere Leute am Bahnhof kaufen und daran verrecken, vergiften wird, vollkommen außer acht. Abschließend blickt sie noch einmal auf mein Krankenblatt. »Mandeln raus, oh oh, das würde ich bei mir selbst ja nie machen lassen. Das tut höllisch weh, heißt’s immer.« Ich blicke sie etwas irritiert an. »Aber keine Sorge, die Operation selbst dauert nur ungefähr 20 Minuten«, lächelt sie mich an, und fügt hinzu: »Das ist ein Standardeingriff.«

4. November

Ich treffe mich mit dem Rest der Redaktion des Münchner curt Magazins auf ein Bier. Meine Redaktionskolleginnen zeigen völliges Unverständnis für meine Angst. »Das ist doch ein Standardeingriff, oder?«. Lediglich ein männlicher Kollege zeigt sich beinahe begeistert verständnisvoll: »Weißt Du schon, was für ein Lied auf Deiner Beerdigung laufen soll? Ich hab’s ja für mich schon alles bis ins Detail geplant, oh Mann, die sollen sich alle die Seele rausheulen ...«. Verdammt noch mal, da habe ich jetzt zwar bereits die Sache mit dem Einäschern und dem Diamanten durchgedacht, aber die Trauerfeier ist bislang noch vollkommen unorganisiert.

5. November

Am Abend vor der OP sollte eine leichte Mahlzeit eingenommen werden. Den vielleicht letzten Schweinsbraten meines irdischen Daseins nehme ich daher bereits zwei Tage vorher ein. Nach zwei Radlern stellt sich zudem eine gewisse Wurschtigkeit gegenüber meiner Zukunft ein. Im Grunde hatte ich ja ein erfülltes Leben.

6. November

Ich packe eine Reisetasche, ohne in den Urlaub zu fahren, und habe einzig und allein den Wunsch, diesen letzten Abend gemütlich auf der Couch sitzend zu verbringen und einen Film anzuschauen. So stelle ich mir das Gefühl vor, das ein verurteilter Straftäter am Abend vor seinem Haftantritt hat: Fluchtgedanken, Einsamkeit und die Angst vor Drogen, Folter, Schmerzen, Einzelhaft und schlechtem Essen auf Plastiktabletts.

7. November

»Keine Sorge, das ist ein ...« – Hätte ich nicht bereits ein starkes Beruhigungsmittel in der Vene, würde mein Blutdruck wahrscheinlich in die Höhe schnellen, als der kroatischstämmige Anästhesist zu seiner Beruhigungsarie ansetzt. Da ich aber auf einer OP-Liege liege und in diesem Moment die erste Portion Gift von meinem Körper begrüßt wird, kann ich mich nicht wirklich verbindlich daran, ob der Satz mit dem Wort »Standardeingriff« endete. Das Narkosemittel schlägt das Radler von vorgestern in Sachen Wurschtigkeitspotential um Längen.

Eine Stunde später wache ich mit drückenden, aber erträglichen Schmerzen auf. Immerhin wirkt noch das Superradler des Anästhesisten nach. Den überprüfenden Griff, dass auch tatsächlich die Mandeln und nicht die Nüsse entfernt wurden, vergesse ich in diesem Moment leider, ich hole ihn jedoch später nach.

17. November

Alle meine Ärzte hatten offenbar Recht. Es war ein Standardeingriff. Und es tut höllisch weh, was sich bis jetzt (eben der 17. November 2011) nur minimal geändert hat. Mein Umgang mit der Tageshöchstdosis meines Schmerzmittels glich in den letzten zehn Tagen dem Umgang des A-Teams mit Tempolimits: Man überschreitet sie nur in Notfällen – aber die Notfälle sind dann doch irgendwie ständig da. Aber: Ich habe überlebt.

Und noch ein Gutes hatte das Ganze: Den Plan mit dem Testament in der Sockenschublade und dem Diamant aus der eigenen Asche finde ich immer noch ziemlich gut. Den werde ich wohl auf jeden Fall beibehalten.

Dieser Text erschien ursprünglich im Frühjahr 2012 in dem alternativen Münchner Stadtmagazin curt.