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»Wandern« vorgetragen von Melanie Knapp
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).
Ich verbrachte meinen Urlaub mit Wandern. Das war sehr mutig von mir, weil ich so ängstlich bin und das Wandern auf einsamen Wegen meine Gedanken leicht auf Abwege bringt.
Bayern wollte ich auf keinen Fall verlassen. Ich bin der Ansicht, dass überhaupt kein Bayer Bayern niemals nicht verlassen sollte.
Ich fuhr in ein Städtchen im Fichtelgebirge, das vollkommen verlassen schien. Allein das Touristenzentrum wies Spuren einer menschlicher Behausung auf. Unglücklicherweise wurde es von einem siebenundzwanzigköpfigen Drachen bewacht.
Nach einigem Hin- und Her rang ich mich zu einer Hausbesetzung durch und drang in das Erdgeschoss eines verlassenen Fachwerkhäuschens ein. Gerade als ich damit beginnen wollte, den ersten Raum vom herumliegenden Schutt zu befreien, erhob sich aus der hintersten Ecke eine alten Hexe. Mit dem Timbre einer verrosteten Stahlseilkonstruktion in der Stimme stellte sie mir folgende Frage: »Wie machen wir's denn mit dem Frühstück? Ist Ihnen acht zu früh?« »Nein, nein,« erwiderte ich hurtig, »ich möchte ja wandern.« »Wandern? So ist's recht. Nehmen Sie sich einen Stecken mit.«
Den Rat einer alten Hexe schlägt man nicht aus. Als ich am nächsten Tag einen alten Trimm-dich-Pfad entlang wanderte und sich beim Versuch eines Hüftunterschwungs die Eisenstange aus dem morschen Reck löste, nahm ich diese dankbar mit und fühlte mich nunmehr als Wanderer richtig gewandet.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass die alte Hexe in Wirklichkeit eine weise Frau war und ein Stock im Gebirge wie das Handtuch in der Galaxis ist, nämlich ausnahmslos unentbehrlich.
Ich setzte meinen Weg fort und trug schwer an meiner Last. Der Rost der Eisenstange grub sich in meine feuchte Handfläche und es bildeten sich kupferfarbene Blasen. Der Weg schien verlassen. Ich passierte zwei Grabsteine von 1910 und entdeckte einen Baum, in dessen Rinde das Datum 1.7.1960 eingeritzt war, wobei die eingeritzten Striche mit den Jahren zu fingerdicken Mulden ausgewachsen waren. Für einen Augenblick erwog ich die Möglichkeit, den kalendarischen Baumbestand mit Hilfe meiner Eisenstange um ein neues Datum zu bereichern, da erhob sich plötzlich eine rauhe Frauenstimme und schob meinen Gedanken einen Riegel vor. »Sind Sie einem Hirsch begegnet?«
Hirsch? begegnet? Wieso? Die Antwort ließ auf sich warten. Meine Gedanken vertrugen die unerwartete Herausforderung nicht und denaturierten.
»Na jedenfalls, wenn sie Einem begegnen, fangen Sie ihn ein.« fügte die Frau etwas freundlicher hinzu und verabschiedete sich mit einem respektvollen Blick auf die Eisenstange in meiner Hand.
Verwirrt setzte ich meinen Weg fort. An der nächsten Wegbiegung begegnete mir ein Mann mit einem – wie ich fand – tollwutverdächtigen Grinsen. »Entschuldigung, ich bin Arzt.« sagte der Mann und drängte sich an mir vorbei.
Stilistisch macht das überhaupt keinen Sinn, deshalb rate ich dem Leser, diese Episode einfach zu übergehen, und auch ich ging ungerührt weiter.
Da drehte sich der Mann nochmal um und sagte: »Da oben habe ich ein Netz aufgestellt für meine Schafe. Ich bitte Sie, gehen Sie außen herum.«
Netz? Schafe? Wieso?
Zeichnung von Joachim Warner für Melanie Knapp
Netz? Schafe? Wieso? Ich stellte mir ein käscherförmiges Fangnetz vor, das oben in den Baumwipfeln hängt und herumfliegende Schafe auffängt. Als der Weg in eine Wiese mit mannshohen Gräsern einmündete, hielt ich außerdem nach unsichtbaren Stolperleinen Ausschau, mit denen der geringste Körperkontakt unter allen Umständen gemieden werden muss, weil einem sonst der Himmel auf den Kopf fällt.
Da es jedoch ausgesprochen schwierig ist, nach etwas Unsichtbarem Ausschau zu halten, erforderte diese Aufgabe meine gesamte Aufmerksamkeit. Hinter mir erscholl ein donnerndes Getrampel und rollte auf mich zu, aber ich maß dem keine Bedeutung bei. Im nächsten Augenblick nahm ich einen samtigbraunen Blitz wahr, der kurz darauf einschlug.
Als ich wieder zu mir kam, erbrachte eine 13-minütige Orientierungsphase folgendes Ergebnis: Ich befand mich mit etwa zwei Dutzend Schafen, einer Eisenstange und einem Hirsch in einem Gatter. Das Gatter umzäunte ein annähernd kreisförmiges Feld von etwa 50 Metern Durchmesser und zwar in sich geschlossen. Ich schätzte seine Höhe auf einen Meter sechzig, die zackige Abschlussborde aus geflochtenem Stacheldraht eingerechnet. Als wichtigstes Detail besaß das Gatter ein Tor, ebenfalls von Stacheldraht bekränzt und von außen verriegelt.
Fazit: Meine Lage war verbesserungswürdig. Ich setzte mich auf einen Grashügel und drehte nachdenklich die Eisenstange in meinen Händen. Dann umfasste ich sie fest, stellte mich ans Gatter und drosch einmal kräftig darauf ein. Eine schafskopfgroße Delle lugte unmotiviert über den Draht. Ich setzte mich wieder hin. Die Schafe grinsten, kauten und zwängten ihre Mäuler in eine metallene Viehtränke in der Mitte der Weide.
Da war mir, als flüsterte mir eine alte Hexe eine Idee ein. Ich verscheuchte die Schafe und begann, die Tränke mit der Eisenstange rhythmisch anzuschlagen. Ein tiefer metallischer Ton erscholl, dessen Obertöne sich weit über die Täler erstreckte. Das Wasser spritzte Schlag um Schlag heraus, und der Ton schwang sich in einer chromatischen Tonleiter bis zu den höchsten Gipfeln des Fichtelgebirges hinauf, begleitet von einem bemerkenswerten Chor begeistert blökender Schafe.
Gerade setzte der Hirsch zum röhrenden Solo an, da näherte sich die Frau, die ich vor Stunden im Wald getroffen hatte. Voller Freude schloss sie das Tor auf und ihren Hirsch in die Arme. Dann überzog sie mich mit Dankbezeugungen, und im Bewusstsein, gleichzeitig einer großen Gefahr entronnen und eine gute Tat vollbracht zu haben, wanderte ich weiter.
An diesem Tag begegneten mir noch zwei Kulupen, drei freilaufende Bullen, ein Mann, der seine Frau mit seinem Hut verwechselte und eine Frau, die ein Schild trug »Vorsicht, herunterfallendes Eis«. Aber in dem Bewusstsein, das gefährlichste Abenteuer soeben überstanden zu haben, machte mir das alles nichts aus.