22.06.06

Melanie Knapp

Emil Welti und die Schweiz

Ich glaube an Schicksal. Ich glaube daran, dass alles einen Sinn hat und nichts dem Zufall überlassen ist. Das macht das Leben sehr einfach. Und das Schreiben auch. So muss ich nicht nach Themen suchen, sondern nur nach Menschen, Dingen, Worten oder Begebenheiten, die mir heute begegnet sind. Kann ja kein Zufall sein, wenn ich mir gerade in dem Moment, in dem ich mich in der Bibliothek an einem schönen Fensterplatz niedergelassen habe, denke, eigentlich könnte ich mal wieder eine Kolumne schreiben. Und gerade in dem Moment, in dem ich mir das denke, wird mein herumschweifender Blick von einer Kastanie eingefangen, die den Innenhof der Bibliothek beschattet. Gerade, als ich mir denke, »komisch, so einen Innenhof hatte die Bibliothek doch noch nie, und schon gar nicht mit Kastanie«, beugt sich die Kastanie zu mir herunter und reicht mir ein Buch. Was für ein Zufall!

Leider heißt das Buch: »Die Schweizer Bundesräte«. Na dann mal los.

»Jakob Stämpfli, 1855-1863, Constant Fornerod, 1855-1867, Fridolin Anderwert, 1876-1880...«
Ich frage mich, ob der Leser auch an Schicksal glaubt. Aber da müssen wir jetzt durch.

»Adolf Deucher, 1883-1912, Joachim Heer, 1876-1878, Numa Droz, 1876-1892«
An dieser Stelle nutze ich die entstandene Pause, um den Leser eindrücklich um Verständnis zu bitten. Als kleinen Trost möchte ich hinzufügen, dass Reizarmut entgegen der pädagogischen Intuition oftmals die Phantasie beflügelt. Stellen Sie sich doch einfach einmal vor, die fade Abfolge Schweizer Bundesräte sei eine weiße Wand, und Sie beginnen jetzt, Figuren darin zu sehen.

Achten Sie im Folgenden besonders auf Ihre Wahrnehmungen und Gedanken.
»Jean-Jacques Challet-Venel, 1811-1893, Emil Welti, 1867-1891«
Aus meinen PC-Lautsprechern höre ich nun bereits leises Schnarchen. Obwohl sich einige Leser vielleicht gedacht haben, »was für schöne Namen«, bevor sie sanft entschlafen sind. Richtig gedacht. »Emil Welti« getraue ich mich, lyrisch zu nennen. Und Jean-Jacques Challet-Venel ist immerhin ein angenehmerer Doppelname als Hanna Rammelt-Gmeiner. Gar Schauerliches muss man manchmal auf protzigen Türschildern hinter protzigen Titeln lesen. »Sich über Namen lustig machen, das ist gar nicht lustig«, bemerkt die Leserin Hanna Schlaubi, die mit ihren moralischen Vorhaltungen bereits im Kindergarten ihren Erzieherinnen gehörig auf die Nerven ging. Ihr ist es zu verdanken, dass ab 1895 nur noch Männer mit ganz langweiligen Namen in den Schweizer Bundesrat gewählt wurden. Eduard Müller, beispielsweise, von 1895 bis 1919, und Johannes Baumann, 1934-1940.
Die letzten Leser beginnen nun zu träumen. Auf Schweizer Bundesräte gebettet, träumen sie von Kräuterschnaps und Murmeltieren. Alle halbe Stunde schrecken sie hoch, weil der Wirt »Kuckuck« (1) ruft.

Hier mischen sich unrichtige Klischees unter die an sich richtigen Vorstellungen von der Schweiz. Gerne greife ich auf den losen Abfall meiner Erinnerungen zurück, um die Klischees zu vervollständigen.

Erstens, die Schweiz ist sehr sauber. Die größte Verschmutzungsgefahr geht von den Verbotsschildern aus, die überall herumhängen und meistens auf den jeweiligen Paragraphen aufmerksam machen, nach dem an der jeweiligen Stelle das Abladen von Müll verboten ist. Personen, die gegen die numerierten gesetzmäßigen Erlasse verstoßen, haben »Polizeibusse und Verzeigung zu gewärtigen«. Auch darf der Abfall niemals lose, sondern nur verknotet in dafür vorgesehene Behältnisse eingeworfen werden. Schweizer verwenden regelmäßig die schönsten Stunden des Tages, um schwerknotbare Joghurtbecher doch noch erfolgreich zu verknoten. Dabei bleiben sie jedoch »frisch und fründlich« und lassen sich auch vom unaufhörlichen Läuten lauter Kuhglocken nicht aus der eidgenössischen Ruhe bringen.
Ganz in Ruhe versuchen sie auch, das Aussterben des Rätoromanischen zu verhindern. Da das Rätoromanische jedoch nicht allen sprachlichen Erfordernissen des Informationszeitalters gewachsen ist, bedarf es einer Expertenkommission, die neue rätoromanische Wörter entwickelt.

Leider weiß ich nichts über die Ergebnisse. Gerne wüsste ich, was »abhotten« oder »chillen« auf Rätoromanisch heißt. Auf Bayrisch heißt ersteres »rumfetzn«, letzteres »rumhocka«. Man kann daraus aber nicht schließen, dass das Bayrische grundsätzlich modern ist.
Die Schweiz ist tolerant und offen. Asylbewerber werden nicht abgeschoben, sondern ausgeschafft. Die Prostitution ist legalisiert. Für den Großteil der Jugend ist Mehrsprachigkeit selbstverständlich. Trotzdem gab es in Zürich 1980 Jugendunruhen. Außer einem Photo von Vokuhilas mit der Unterschrift »Jugendunruhen in Zürich 1980« habe ich jedoch nichts darüber gefunden. Auch an das Photo erinnere ich mich so gut wie gar nicht. Es könnten genausogut Jugendliche mit Glatzen oder mit französischen Zöpfen abgebildet gewesen sein, nur halte ich das aufgrund meiner Geschichtskenntnisse für unwahrscheinlicher. Das Photo hing in einer Ausstellung über den Globi. Da der Globi hierzulande recht unbekannt ist, möchte ich ihn kurz vorstellen. Der Globi ist ein schwarzer Vogel, der aussieht, wie ein erwachsener Calimero, nur angezogen. Der Globi ist schon sehr alt, ungefähr 90 Jahre alt. Weil er schon so alt ist, verbindet er Generationen. Nicht nur ganz kleine Schweizer, sondern auch deren Großeltern und teilweise Urgroßeltern hat der Globi also bereits begeistert, belustigt und belehrt. Für diese Belehrungen müssen regelmäßig Expertenkommissionen einberufen werden, da sie nur begrenzt haltbar sind. Im Folgenden möchte ich aus einem Globi-Band zitieren, der sein Verfallsdatum bereits überschritten hat.

Aus: »Globi im Urwald«

»Er empfindet Unbehagen
wegen Ungezieferplagen
unser Freund hat die Idee
hier hilft einzig DDT

Ja, die DDT Substanzen
töten Läuse, Flöhe, Wanzen,
und man schätzt in jedem Staat
dieses Schweizer Fabrikat«

30 Jahre später führten diese Verse zu den gefürchteten Zürcher Jugendunruhen.

[1] vgl. Asterix bei den Schweizern, S.26 ff