29.07.05

Melanie Knapp

Spaziergänger mit einer Granate unter dem Arm sind für Stefanie Badenheuer kein ungewohntes Bild

Wer zum Teufel ist Stefanie Badenheuer? Eine kurdische Peschmerga? Eine britische Terrorfahnderin? Wo in aller Welt laufen in diesen Zeiten Spaziergänger mit Sprengstoff unter dem Arm herum, ohne dass ein Anlass zur Sorge, wenn nicht gar Panik gegeben ist?

Anscheinend ganz in der Nähe, denn Stefanie Badenheuer ist eine junge Frau, die in irgendeinem ehemaligen, längst aufgelösten Bundesforstamt in Bayern wohnt. Regelmäßig kreuzen bewaffnete Naturliebhaber bei ihr auf und möchten im Wald gefundenen Sprengstoff aus dem zweiten Weltkrieg und scharfe Munition der US-Army in ihrem Wohnzimmer deponieren. Stefanie Badenheuer verliert nicht die Nerven, erschießt keinen einzigen, wendet sich aber an die Erlanger Nachrichten, um öffentlichwirksam darauf hinzuweisen, dass, erstens, sie nicht das Forstamt, und zweitens, das Forstamt nicht die zuständige Stelle für solche Findlinge ist. Die Erlanger Nachrichten schreiben einen abenteuerlichen Artikel unter der schönen Überschrift: »Spaziergänger mit einer Granate unter dem Arm sind für Stefanie Badenheuer kein ungewohntes Bild.«

Seitdem begleitet mich dieser Satz auf meinen Spaziergängen durch Erlangens Wälder. Begegne ich Männern in Kutten mit mittelalterlich anmutenden Werkzeugen, oder anderen, die Waldhörnern schauerliche Töne entlocken, so denke ich beruhigt, es hätte schlimmer kommen können. Lieber unbewaffnete Irre als bewaffnete Normalbürger. Glücklicherweise sind Erlangens Wälder vor über zehn Jahren vollständig ins zivile Leben zurückgekehrt. Die Munitionsschätze wurden längst von sammelwütigen Kids und jugendlichen Punks zu privaten Ausstellungsstücken umfunktioniert oder zu Gürteln verarbeitet.

Gerne würde ich deshalb andere Geschichten von Komplikationen mit dem Vormieter erzählen. Von Menschen, die im ehemaligen zentralen Fundbüro der Deutschen Bahn wohnen oder in den mittlerweile geschlossen Niederlassungen der Landeszentralbanken. Was erleben die Nachmieter der wegrationalisierten Filialen der deutschen Post? Keine Ahnung. Mir ist nichts bekannt und die Spuren meiner eigenen Vormieter sind schwer zu deuten. So erhalte ich noch verschiedene Zeitschriften, die sich gegenseitig nicht ausstehen können. Das (r)evolutionären Veränderungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent gewidmete Magazin ILA findet sich zusammen mit dem Hochglanz-Stylingmagazin »Instyle« in meinem Briefkasten ein. Den (Klassen-)Kampf um meine Aufmerksamkeit gewinnt natürlich die »Instyle«. Zu lesen, dass es Raubkatzenpumps der Marke »Unützer« gibt, bereitet mir große Freude, noch dazu, da diese als »Must-have für den Dezember« vorgestellt werden. Unnützer geht es wirklich nicht.

Wenn ich jetzt im Dezember durch Erlangens Wälder streife und bärtigen Männern mit Plastiktüten begegne, die sich im Schnee nach einem Schlafplatz umsehen, denke ich beruhigt, auch für diese Menschen hätte es schlimmer kommen können: Schrecklich muss der Tag sein, in dem es nichts in der Altkleidersammlung zu finden gibt als Raubkatzenpumps von Unützer.

Weitere Spuren hinterließen meine Vormieter in der Rumpelkammer. Hier fand ich neben dutzenden Paar Schuhen in einer mir zu niedrigen Größe, einer nicht mehr funktionstüchtigen Nähmaschine und ca. 50 Kilo verschiedenartigen, größtenteils gesprungenen Badezimmerfliesen einen nagelneuen Fechtanzug mit Gesichtsschutz. Ich ziehe ihn mir ab und an zum Kochen an. Das Schönste aber, das ich jemals in der Rumpelkammer fand, waren kreisrunde, leicht gerillte Plastikfolien in der Größe von Untersetzern. Als Tonträger eindeutig zu erkennen waren sie doch zu weich und labberig, um als Schallplatte zu taugen. Die Scheibchen gaben mir ein Rätsel auf, das ungelöst blieb. Schließlich landeten sie beim Sperrmüll. Ihren Wert erkannte ich erst post mortem. Auf einer Feier führte die Gastgeberin ihren antiquarischen Buchbestand vor, darunter ein Buch über Vogelstimmen, in das kleine runde Plastikscheiben eingeklebt waren. Die Gastgeberin stellte einen schweren schwarzen Apparat mit einem Lautsprecher auf das Buch, und – höre da – Vogelgezwitscher erscholl, eingebettet in wohlig wärmendes Knacken, das Freunde analogen Musikerlebens in weiche, labberige Scheibchen verwandelt. Dies sei ein Librophon, erklärte die Gastgeberin, und in den 60er Jahren keinesfalls unüblich gewesen. Verblüffte Gesichter. Multimedia in den 60ern? Als die Frauen sich noch Gedanken darüber machten, warum ihrem Angetrauten der Kaffee im Büro besser schmeckt als zu Hause? In dieser von Konventionen starrenden Welt ein flexibles Plastikscheibchen voller akustischer Wunder? Ein mobiles Audioequipment in einer in die vier Wände des eigenen Heims gezwängten Welt, zu deren armseligen Ehrenrettung später eigens die Legende von der 68er Generation erfunden werden musste? Mobile, portable, während noch nicht einmal die Babytragetasche die Abendgestaltung junger Eltern revolutioniert hatte? Unabhängig von infrastrukturellen Standortfaktoren ist das Librophon überall einsetzbar – im Park, an der Bushaltestelle, im Wald...

Eindeutig ist dies das Format, das ich mir für kolumnen.de wünsche! Hardcover mit Schallfolien. Beim Aufsetzen der Wunderbox ertönt eine Stimme. Und da man das Librophon überall mit hinnehmen kann, titeln die Zeitungen bald: Spaziergänger mit Librophonen unter dem Arm sind heutzutage keine Seltenheit mehr.« Was für eine friedliche Welt! Was für ein friedlicher Wald!