29.08.03

Melanie Knapp

Jungle World

Ich verfüge über eine sehr schöne Wohnung in Innenstadtlage. Die Wohnung ist geräumig und mit allem eingerichtet, was ein konsumverwöhnter Mensch unserer Breiten so zu brauchen meint, von Kleinigkeiten wie einer Heizung mal abgesehen. Das einzige Problem ist: meine Wohnung wird von einer ganzen Menge unterschiedlicher Menschen bewohnt, die ich trotz kompliziertester Auswahlverfahren doch immer erst vom Tag ihres Einzugs an kennenlerne. Heute morgen saß am Frühstückstisch anstatt der üblichen Terroristen ein Siemens-Pressesprecher und beantwortete ihm nicht gestellte Fragen zur veränderten Auftragslage der Abteilung »Energy Production and Distribution« nach den Stromausfällen in den USA.

Ich, nach einem flüchtigen Blick über Essensreste und eingetrockneten Kaffeesatz in der Spüle, fühlte mich für den Bruchteil einer Sekunde berufen, gleichsam als Pressesprecherin dieser Wohngemeinschaft umständliche Erklärungen über saisonale Schwankungen im Befindlichkeitszustand unserer Küche abzulegen, biss mir dann jedoch ins Bein und verfolgte den richtigen Gedanken, dass es völlig wurscht sei, was irgendwelche mir fremden Menschen über mich im Zusammenhang einer Küche denken könnten. Ohnehin sollte es mir vollkommen egal sein, was andere Menschen von mir denken, solange die Maxime meines Handelns, usw...

Diesem Gedankengang folgte ich nicht, sondern geriet, sozusagen, über den schlüpfrig sumpfigen Pfad der Erinnerungen zu einigen der vielen Situationen, in denen es mir trotz bester Vorsätze so gar nicht gleichgültig blieb, was andere, seien es noch so wildfremde Personen, von mir halten konnten. Vor der Bundestagswahl beispielsweise, diese vermummten jungen Männer, die ich beim nächtlichen Plakateverzieren mit der Mitteilung überraschte, ich sei FDP-Wählerin. Zu peinlich das. Oder neulich, als ich diese fünf nackigen Kinder in einem Schweinetrog fotografierte und von deren Eltern (die die Kinder in dem Trog ausgesetzt haben mussten) dafür als üble Spannerin beschimpft wurde. Da machte es krack – und mein Selbstbild hatte einen Sprung.

Ein Freund von mir meinte, schlimmer als als üble Spannerin beschimpft zu werden, wäre es gewesen, als üble Spanierin beschimpft zu werden, da letztere immer so herumschrien.

Ich holte mir daraufhin eine Spanierin in die Wohnung und stellte fest: Auf spanisch spricht die Spanierin etwa so laut, wie der Siemens-Pressesprecher beim Frühstück, wirkt dabei jedoch sympathischer, da ich sie 1. nicht verstehe, sie 2. wesentlich später frühstückt und sie 3. höchst wahrscheinlich nicht über Mittelsspannung spricht.

Auf deutsch spricht die Spanierin samtpfötchenleise, weil sie megahohen Respekt vor der deutschen Sprache hat. Den hätte ich auch, müsste ich ihr Deutschlehrbuch durcharbeiten, in dem nicht von lockeren Restaurantbesuchen die Rede ist, wie man das aus Volkshochschulzeiten kennt, sondern ausschließlich von Schriftstellern, Dichtern, Philosophen und Wissenschaftlern. Kurt Tucholsky macht sich da noch am Heitersten aus, doch wird von ihm hauptsächlich sein mysteriöser Selbstmord behandelt. Als Beispiel tucholskischen Humors muss hingegen die Anekdote genügen, Tucholsky habe drei Tage nach seinem Tod noch einen Brief an die norwegische Studentenschaft verfasst.

Da ich mich schon tief im Dschungel nationaler Stereotypien verfranst habe, bringe ich noch einen Chinesen aufs Tablett, der sich in eben diesem Dschungel ebenso tief verfranst hatte wie ich. Ich lernte ihn vor Jahren auf einer Studentenfeier kennen, auf der man immerzu raten musste, was andere Gäste studieren. Der Chinese studierte Deutsch und Philosophie und war in der abstrusen Erwartung, in Deutschland auf eine Vielzahl gebildeter und philosophisch interessierter Menschen zu treffen, hierher gekommen.

Ein Opfer besagten Deutschlehrbuches. Eines. Von vielen. Jeden Tag.

Der Pressesprecher wird im Falle der Auftragserteilung an Siemens auf unabsehbare Zeit nach Amerika gehen.

Die Spanierin lernt rasend schnell deutsch und beschwerte sich neulich, ich würde zu laut telefonieren.

Der Chinese merkte schnell, dass in Deutschland Menschen wohnen, die noch niemals ein Wort von Kant in den Mund genommen haben und sich ins Bein statt in die Zunge beißen. Er bemerkte außerdem, dass diese Menschen in ihren Lehrbüchern dick auftragen, weil es ihnen keineswegs egal ist, was andere Menschen von ihnen denken.

Völlig egal aber ist es ihnen, wenn in China ein Sack Reis umfällt.

Um dies zu ändern, führt er inzwischen deutsche Touristen durch Peking und zitiert gerne aus seinem ehemaligen Deutschkurs den Beispielsatz für den Konjunktiv II: »Hätte der Zeitreisende gewusst, dass er nicht in München, sondern in China gelandet ist, wäre er nicht so erstaunt gewesen.«