29.08.07

Melanie Knapp

Das Deutsche Rettungshundewesen

Dank gezielter Kampagnen verschiedener Naturschutzverbände rückt das Schicksal vom Aussterben bedrohter Tier- und Pflanzenarten zunehmend ins öffentliche Bewusstsein. Sorge bereitet den Artenschützern hingegen die weitgehend im Verborgenen stattfindende Ausrottung heimischer Alltagsgeräusche. Früher waren bestimmte mechanische Geräusche mit ganz spezifischen Alltagshandlungen untrennbar verbunden. Heute laufen diese Alltagshandlungen im Stillen ab und müssen mit künstlich erzeugten Frequenzen untermalt werden.

Ein im Aussterben begriffenes Geräusch ist das Klicken, das aus dem Telefonhörer drang, wenn am anderen Ende der Leitung der Hörer auf die Gabel gelegt wurde. Je nach Intensität hieß dieses Geräusch »Klick« oder »Klack«. Heute heißt Klick Piep und zählt zu den sogenannten Schein-Geräuschen, die nicht entstehen, weil jemand etwas tut, sondern wenn jemand etwas tut. Sie bedrohen unsere angeborene Intuition für Ursache und Wirkung und erzeugen durch ihre Informationsarmut ein Gefühl der Gefühllosigkeit. Das variationslose und darüber hinaus unangenehm hochfrequente »Piep« vermag uns keine innere Vorstellung zu vermitteln, die uns über das Geschehen am anderen Ende der Leitung ins Bild setzt. Wir werden lediglich informiert, wir nehmen das Ende des Gesprächs zur Kenntnis, ohne jemals zu erfahren, ob der Gesprächspartner den Hörer lieber wütend auf die Gabel geknallt oder sorgsam gebettet hätte.

Die Telefongabel ihrerseits ist ebenfalls vom Aussterben bedroht. Ebenso das alte schwarze Schellack-Telefon, von dem ein Bekannter von mir behauptet, er hätte noch bis in die späten 90er Jahre hinein eines besessen. Mit diesem hätte er Gespräche abhören können, indem er die Gabel nur ganz leicht niedergedrückt gehalten und in das Schwarze des Hörers gelauscht hätte. Aus dem Schwarzen des Hörers wäre ein weißes Rauschen entstiegen und dazwischen bunte Satzgebilde, die allerdings ausnahmslos profan gewesen und über den Spannungsgehalt einer durchschnittlichen Beziehungskrise niemals hinaus gekommen wären.

Nur einmal, einmal hätte ein Mann einen Witz erzählt. »Geht ein Mann durch die Wüste und schleppt eine Telefonzelle mit sich rum ...«. Und ein Kind hätte gefragt: »Was ist das, eine Telefonzelle?« Da habe der Mann die Telefonzelle durch einen Wäschetrockner ersetzt, denn in dem Witz ist es nur wichtig, dass jemand etwas Großes, Schweres durch die Wüste trägt. Aber am nächsten Tag, als mein Bekannter morgens mit dem Rad zur Arbeit fuhr, da waren in der Stadt alle öffentlichen Telefonzellen durch Wäschetrockner ersetzt. Einige fielen gar nicht auf, um andere bildeten sich kleine Menschenansammlungen, die über den Nutzen der Wäschetrockner diskutierten und sie verschiedenen Untersuchungen unterzogen. Ein Herr mit einem lila Telekom-T-Shirt zückte ein Mobiltelefon und rief seine Cousine in Neapel an. »Stell' dir vor, eh! Bei uns wird die Wäsche nun auch auf der Straße getrocknet. Ist das nicht romantisch?« Und er bekam feuchte Augen und wachte auf.

»Na«, sagte ich, »vielleicht hast du das mit dem Schellacktelefon auch eher geträumt, denn meinem Verständnis nach wurde Schellack zu spröden alten Zarah-Leander-Platten verarbeitet, und sonst gar nichts.«

Mein Verständnis täuschte mich aber. Eines schönen Abends, die Sonne war noch nicht untergegangen und tauchte die Merkwürdigkeiten dieser Stadt in noch merkwürdigeres Licht, schlenderte ich durch die Straßen und lauschte den Musikern, die vom Aussterben bedrohte Geräusche imitierten. Es roch nach frisch getrockneter Wäsche. Die Leute erzählten sich derbe Witze. Ein Mann im weißen Kittel bot mir Süßigkeiten an. Ich kaufte eine Packung Schoko-Dinkelchen mit 8 Prozent Russisch-Brot.

»Ich bin Dr. Quent«, sagte der Mann. »Diese Schoko-Dinkelchen sind mit Schellack überzogen. Wussten Sie das?«
»Klar«, sage ich, »steht ja auf der Packung.« In diesem Augenblick klingelt das Telefon. Wikipedia ist dran. »Was können wir für Sie tun?«
»Wikipedia, Ihr müsst mir helfen! Ich esse gerade Schokokekse, die aus alten Zarah-Leander-Platten hergestellt sind.«
»Kein Problem«, meint Wikipedia. »Schellack wird aus den Ausscheidungen einer Schildlaus namens Kerria Lacca gewonnen, ist ungiftig und eignet sich hervorragend als Überzugsmittel.«
»Ach so, Lausscheiße, ja dann«, beruhige ich mich ein wenig, studiere aber vorsichtshalber noch mal das Bild von Dr. Quendt auf der Verpackung Der Begriff »lausige Musik« eiert durch meinen kopf und nimmt bisher unbekannte Formen an. »Sagen Sie mal, war das Zeug nicht sogar für Platten zu spröde?« Dr. Quendt, Dr. Ingenieur für Lebensmitteltechnologie, antwortet nicht. Ich habe keine Lust mir die Magenwand aufzureißen. Andererseits sieht der Lebensmitteltechnologe sehr seriös aus. Ein bisschen spröde vielleicht. Ob es auch Russisch-Brot mit Vinylüberzug gibt? Ob es Deutsche gab, die kurz vor Kriegsende, als es galt, den Haushalt von Naziemblemen zu säubern, ihre Mein-Kampf-Platten aufgegessen haben? Als besonders schwer verdauliches Zeug, vielleicht? Oder gab es gar keine Platten? Die Hörbuchära noch nicht eingeläutet?

Die Lackschildlaus produziert eine harzige Substanz und wird dadurch zum Leckerbissen für ihre Feinde.

Ich möchte an diesen Text eine Moral anfügen. Sie lautet:
Um interessante Dinge entdecken zu können, persönliche Grenzerfahrung zu machen und Abwechslungen zu erleben, ist es nicht notwendig, aufwendige Fernreisen zu buchen. Unsere unmittelbare Umgebung wimmelt vor Merkwürdigkeiten sowie merkwürdigen Wesen. Beispiel: Das Deutsche Rettungshundewesen.