»Ich kapier das nicht!« Schmoltke lehnt sich betont lässig am Rahmen meiner Bürotüre an. Beim Versuch, die Beine übereinander zu schlagen kommt er dabei allerdings kurz in eine instabile Lage, strauchelt und kann sich durch rudernde Armbewegungen gerade noch mit letzter Kraft aufrecht halten. »Was denn jetzt schon wieder? Das Überkreuzen Ihrer Beine?«, frage ich gelangweilt nach, während mein Magen laute Knurrgeräusche von sich gibt. »Nein«, wehklagt der Buchhalter, aufgrund seiner neuerlichen Ungeschicklichkeit ein klein wenig errötet im Gesicht, »diese Finanzkrise ...«
Die Finanzkrise hat mittlerweile auch in unserer Firma deutliche Spuren hinterlassen. Unser bisheriger Brötchenlieferservice gehörte nämlich bis vor kurzem noch einem schwäbischen Großunternehmer, der sich im Börsenchaos allerdings etwas verzockt hat und besagtes Unternehmen in seiner Not an eine Private-Equity-Gesellschaft verkaufen musste. Hilfe von der Bundesregierung blieb aus, da die Kanzlerin die noch verbleibenden Mittel aus dem Rettungsfonds bereits einer großen Landesbank versprochen hatte, welche damit ihre diesjährigen Bonizahlungen an das Top-Management sowie die betriebsinterne Weihnachtsfeier zu finanzieren gedenkt.
Die neuen Eigentümer unseres ehemaligen Frühstückslieferanten durchleuchteten dann zunächst einmal die Kostenstruktur des Unternehmens und stellten dabei völlig überraschend fest, dass die beiden Blöcke »Personal« und »Brötchen« den Löwenanteil der Kosten ausmachten. Teuer eingekaufte Berater entschieden deshalb nach wochenlangen Diskussionen – welche sie angeblich sorgsam auf mehreren Tausend bunt ausgedruckten PowerPoint-Folien dokumentierten – die Mitarbeiter unseres Frühstückslieferanten fortan durch leblose Automaten sowie die Brötchen durch billig in Südostasien produziertes, mehrere Jahrzehnte haltbares Knäckebrot zu ersetzen. Wenn sich die Wogen auf dem Finanzmeer wieder etwas geglättet haben, soll das Unternehmen übrigens gewinnbringend an die Börse gebracht werden.
»Weil Banker in den USA ein paar Immobilien überbewertet haben, bekommen wir hier nur noch trocken Brot zu essen«, fasst Schmolkte die prekäre Situation nochmals mit seinen eigenen Worten zusammen. »Das verstehe ich einfach nicht!« Schmoltke mag keine komplexen Zusammenhänge. Alles, was sich nicht mit Hilfe von Buchungssätzen darstellen lässt, überfordert ihn.
»Tja, Schmoltke«, versuche ich ihm die weltpolitische Lage dennoch zu erklären, »so ist das eben mit der Globalisierung! Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Wenn ein Schmetterling in Bielefeld an einer Blume schnüffelt, kann infolgedessen im Osten Chinas unbemerkt ein Sack Reis vom LKW fallen«.
»Oh mein Gott ...«, des Buchhalters Augen weiten sich entsetzt, »eine Inventurdifferenz?!« Ich hatte offenbar das richtige Beispiel ausgewählt.
»Exakt!«, hake ich rasch ein, »infolgedessen klettert zuerst der Reispreis in die Höhe. Dann kommt es weltweit zu Hungersnöten und Bürgerkriegen, da sich die Menschen um den teuer gewordenen Reis prügeln. Der Rohölpreis steigt ebenfalls, weil die OPEC nicht mehr mit der Ölversorgung für die Kriegsgerätschaften in den Bürgerkriegsregionen nachkommt. Es riecht nach Inflation! Auf den Kapitalmärkten nimmt das Kapitalangebot ab, der Kapitalzins steigt und bislang noch lohnende Investitionen werden durch Zinssteigerung auf einmal unrentabel. Unternehmen, deren Rendite nicht mehr ausreicht, gehen Bankrott und Millionen Arbeitnehmer weltweit stehen plötzlich auf der Straße und können sich nicht einmal mehr Knäckebrot leisten, von Benzin ganz zu schweigen ...«
»Genau so entstand die Finanzkrise – nur anders«, schließe ich meine Erläuterungen nach einer kurzen rhetorischen Pause ab.
»Schmetterlinge mochte ich ja noch nie!«, seufzt Schmoltke frustriert. »Das Ganze erinnert mich ein bisschen an den Domino Day, den ich neulich zusammen mit Mutti angeschaut habe. Nur war es da kein Schmetterling, der den Stein ins Rollen brachte, sondern Frauke Ludowig. Aber die mögen Mutti und ich auch nicht sonderlich.«
Ich schaue ihn fragend an und bin mir nicht ganz sicher, ob er meine globalgalaktischen Ausführungen tatsächlich verstanden hat. Gerade, als ich zu einer Testfrage ansetzen möchte, kommt Chef in mein Büro gestürmt und komplettiert, krümelnd ein Knäckebrot kauend, die illustre Runde. »Wo iff Fie beide gerade beifammen hab«, schmatz er und würgt den Bissen mit einem gequälten Gesichtsausdruck hinunter, ehe er fortfährt, »wo bleiben eigentlich die Zahlen für den Monatsabschluss? Sie belastet das ja eher weniger – aber ich will ja beim Vorstand nur ungern blöd dastehen. So kurz vor den Bonizahlungen ...«
Mein Blick wandert in Richtung Schmoltke, der wiederum Chef im Visier hat, welcher gerade angewidert die letzten Reste seines Knäckebrotes in meinem Papierkorb entsorgt. »Eigentlich wollte ich gerade damit anfangen«, rechtfertigt sich der Buchhalter und versucht, ein leichtes Grinsen zu unterdrücken, »als plötzlich dieser Schmetterling in Bielefeld ...«
Die Globalisierung hält – Herrn Schmoltke sei Dank – endlich auch in meinem Büro Einzug.
Nachdem Chef kurz darauf mit den Worten »Sie fliegen auch bald wie Schmetterlinge – und zwar hier raus!« wutschnaubend aus dem Raum flattert, steht Schmoltke noch eine Weile regungslos da, den Blick gedankenverloren gen Boden gerichtet. »Eine Frage hätte ich aber noch«, murmelt er schließlich und schaut in meine Richtung auf, »seit wann gibt es in Bielefeld eigentlich Blumen?«
Wo sind die vielen anderen Kolumnen der wahnsinnigen Büroreihe »Business as usual« von Raymund Krauleidis hin?
Die können Sie seit Ende 2009 als Büroroman »Schmoltke & Ich« lesen!