06.10.09

Raymund Krauleidis

Business as usual:
Doktorspielchen

Es gibt weitaus Schöneres, als Herrn Schmoltke aus der Buchhaltung zum Kollegen zu haben. Einen Wespenstich etwa. Oder einen Besuch beim Zahnarzt. Dennoch habe ich manchmal Mitleid mit ihm. Zum Beispiel heute ...

Ich bin gerade dabei, entheftete Heftklammern für einen erneuten Gebrauch zurecht zu biegen (die Wirtschaftkrise hat auch bei uns mittlerweile deutliche Spuren hinterlassen, was sich unter anderem in mehr oder weniger sinnlosen Sparmaßnahmen bemerkbar macht), als mich das hinterhältige »Bling« meines E-Mailprogramms plötzlich derart aus der Konzentration reißt, dass ich mir die sich aktuell in Bearbeitung befindliche Heftklammer mit voller Wucht in die Kuppe meines rechten Zeigefingers ramme.

Einen kurzen, aber umso heftigeren Fluch später klicke in meiner grenzenlosen Neugier auf »Nachricht öffnen«. Zur Abwechslung mit dem Mittelfinger.

Von: Uschi Blamayer – Leiterin Unternehmenskommunikation
Gesendet: 05. Oktober 10:28
An: alle Mitarbeiter
Betreff: Ersthelfer

Liebe Kolleg(en)Innen!

Die Lücke, die die betriebsbedingte Kündigung von Frau Bachhuber aus dem Bereich Mitarbeiterbindung hinterlassen hat, konnte nun endlich geschlossen werden! Wir ernennen hiermit Herrn Schmoltke aus der Buchhaltung mit sofortiger Wirkung zu unserem neuen Ersthelfer. Die entsprechenden Kurse wird er im Laufe der kommenden Wochen absolvieren.

Sie erreichen Herrn Schmoltke bei sämtlichen Wehwehchen tagsüber unter der internen Durchwahl 00815.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Einen verletzungsfreien Arbeitstag wünscht

Uschi Blamayer
– Leiterin Unternehmenskommunikation –

»Schmoltke, Ersthelfer und staatlich zertifizierter Buchhalter. Was darf ich für Sie tun?«, meldet sich mein erklärter Lieblingskollege, nachdem ich – wie befohlen – die angegebene Nummer gewählt habe.
»Och, ich wollte Ihnen eigentlich nur mitteilen, dass ich mich gerade ganz doll schlimm verletzt habe ...«
»Bin in drei Sekunden bei Ihnen. Halten Sie durch! Aber wehe, Sie nehmen mich schon wieder auf den Arm!«, hechelt der Buchhalter nervös ins Telefon.
Sieben Minuten und achtzehn Sekunden später betritt auch schon ein in einem weißen Arztkittel und mit grünem Erste Hilfe-Koffer bewaffneter Schmoltke mein Büro. Um seinen wurstigen Hals baumelt ein Doppelkopf-Stethoskop.

»Finden Sie das jetzt nicht ein klein wenig übertrieben?«, frage ich dezent nach.
Schmolkte schaut derweil irritiert auf meinen verletzten Finger und die kleine Mini-Pfütze, die sich zwischenzeitlich auf meiner Schreibtischplatte gebildet hatte (bestehend aus ca. anderthalb Tropfen). »Ach herrje, das ist ja Blu...«

Weiter kommt er nicht ... Und als er Sekundenbruchteile später in sich zusammensackt und etwas unsanft Richtung Boden entschwindet, bin ich irgendwie froh, dass heute ausnahmsweise keine scharfkantigen Gegenstände auf meinem orangefarbenen Büroteppich herumliegen.

»Es klingt jetzt womöglich ein wenig verwirrend«, entschuldige ich mich bei Frau Blamayer vorab, »aber könnten Sie vielleicht mal ganz kurz in mein Büro kommen? Hier liegt ein als Arzt verkleideter Buchhalter auf dem Boden. Und bitte nicht erschrecken: Ich blute!«

Die Nachricht spricht sich offensichtlich herum wie ein Lauffeuer, denn keine zehn Minuten später findet bereits eine mittelgroße Betriebsversammlung rund um mein Büro herum statt. »Was issen hier los?«, will Herr Dworschak aus dem Marketing wissen, der im Gafferstau, welcher sich mittlerweile auf dem umliegenden Fluren gebildet hat, gerade die Tür zu meiner Schreibstube passiert.
Unmöglich, wie sich manche Leute am Leid ihrer Mitmenschen förmlich aufgeilen! Das nächste mal verlange ich Eintritt ...

»Ich kenne mich da ja nicht so aus, aber ich glaube, der ist bewusstlos!«, lehnt sich Frau Wetzlaff, ihres Zeichens Leiterin Facility Management ziemlich weit aus dem Fenster.
»Wir könnten ihm einen Eimer Wasser über den Kopf schütten«, schlägt Chef vor.
»Spinnen Sie«, winkt der Leiter Controlling entsetzt ab, »viel zu teuer! Maximal ein paar sanfte Schläge auf die Wange. Mehr können wir uns im Zeichen der Wirtschaftskrise absolut nicht leisten ...«
»Herrschaften - lassen Sie uns doch zuerst einmal ein Projekt aufsetzen«, versucht Herr Holzmann etwas Ruhe in die Diskussion zu bringen. Herr Holzmann ist Unternehmensberater und spezialisiert auf Prozessoptimierung.

»Ruf doch endlich mal jemand einen Arzt!«, tönt es plötzlich – marginal genervt – von etwas weiter hinten.
Alle Augen richten sich auf Dworschak.
Fassungslose Stille.
Lediglich unser ebenfalls anwesender Vertriebsvorstand stammelt ein kaum hörbares »Genial!« vor sich hin. Man muss dazu wissen, dass das Naheliegendste in der Regel das ist, woran bei uns im Unternehmen zu allerletzt gedacht wird ...

Dann geht es Schlag auf Schlag. Frau Blamayer setzt einen Notruf ab, wobei sie im ersten Versuch aus Gewohnheit die Nummer unserer internen IT-Hotline wählt. Dort erzählt man ihr, dass gerade alle Serviceplätze belegt seien und sie es am besten nächstes Jahr noch mal versuchen soll. Beim zweiten Anlauf klappt es dafür besser.

Sechzehn Minuten und neunundzwanzig Sekunden später betritt schließlich ein mit einem grünen Erste Hilfe-Koffer bewaffneter Notarzt mein Büro. Er rechtfertig sich kurz für seine Verspätung (»Gafferstau!«) und macht sich sogleich an die Behandlung des als Arzt verkleideten Buchhalters auf dem Boden. Dass ich beinahe verblute, scheint unterdessen immer noch niemanden ernsthaft zu interessieren ...

»Na, Kollege«, tätschelt der Notarzt Schmoltkes Wange, nachdem dieser sich kurze Zeit später wieder halbwegs aufgerappelt hat, »ich hab Ihnen mal ein bisschen Saft abgezapft, mal schauen, was mit Ihnen los war.«
Ich versuche noch, den Arzt davon abzuhalten, mit der vollen Ampulle unmittelbar vor Schmoltkes Gesicht herumzufuchteln – komme allerdings ein paar Sekunden zu spät ...

Von: Uschi Blamayer - Leiterin Unternehmenskommunikation
Gesendet: 06. Oktober 09:46
An: alle Mitarbeiter
Betreff: Verschiedenes

Liebe Kolleg(en)Innen!

Nach den gestrigen Vorfällen sind Verletzungen während der Arbeitszeit künftig verboten! Sollten Sie sich dennoch wehtun, stempeln Sie sich zuvor bitte ordnungsgemäß aus.

Zudem wird die Arbeitsanweisung Nr. 345b V.2 vom 28. Juli 2009 (»Entheften und Zurechbiegen gebrauchter Heftklammern für den erneuten Gebrauch«) aus Sicherheitsgründen aufgehoben! Um die hieraus resultierenden Mehrkosten zu kompensieren, tritt dafür mit sofortiger Wirkung die Arbeitsanweisung Nr. 345b V.2.1 in Kraft (»Bringen Sie Ihre Büromaterialien gefälligst von zuhause mit!«).

Herrn Schmoltke geht es übrigens schon wieder etwas besser! Allerdings sollten Sie ihn nach seiner Genesung noch mit roten Dingen verschonen. Dies gilt auch für Zahlen ...

Viele Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Einen staufreien Arbeitstag wünscht

Uschi Blamayer
– Leiterin Unternehmenskommunikation –

P.S.: Im Auftrag meistbietend abzugeben: Erste Hilfe-Koffer (grün), Arztkittel (Größe M) und Doppelkopf-Stethoskop (kaum benutzt). Nähere Infos hierzu finden Sie im Intranet.

Nebenbei bemerkt: Auch ich bin mittlerweile wieder auf dem Damm! Der Notarzt hatte glücklicherweise noch ein Kinder-Pflaster mit lustigem Bärchen-Motiv dabei – genäht werden musste wider Erwarten nichts ...

  1. Ich und der Vorstand
  2. Jobrotation
  3. Schmoltke in der Krise
  4. Das Weihnachtswunder
  5. Schweinegrippe-Party
  6. Doktorspielchen
  7. Falsch verbunden | Misconnected
  8. Jahresrückblick 2009

Wo sind die vielen anderen Kolumnen der wahnsinnigen Büroreihe »Business as usual« von Raymund Krauleidis hin?
Die können Sie seit Ende 2009 als Büroroman »Schmoltke & Ich« lesen!