16.11.08

Raymund Krauleidis

Braindead Reloaded – Das Experiment

Erinnern Sie sich noch daran, als ich mich vor wenigen Monaten über meine schrecklichen Gedächtnislücken beklagte? Nein? Kein Problem – ich nämlich auch nicht! Zumindest nicht mehr so richtig. Ich weiß nur noch, dass das Internet die sukzessive Degeneration meines Gehirns zu verantworten hatte. In Ermangelung einer auftretenden Besserung dieses Zustands beschloss ich nun schweren Herzens, eine Woche lang auf meinen geliebten Rechner zu verzichten und somit auch jeglichen Kontakt mit dem World Wide Web zu meiden.

Doch ein derart gewichtiges Vorhaben bedarf im Jahr 2008 einer sorgsamen Planung, die sich im schlimmsten Fall – sogar über mehrere Tage hinweg ziehen kann. »Liebe Freunde, Bekannte, Familie, Geschäftspartner sowie Newsletter- und SPAM-Versender«, eröffne ich die Planungsphase mit einer temporären Abschieds-E-Mail an mein komplettes Adressbuch, »aus gesundheitlichen Gründen haben mein PC und ich beschlossen, künftig getrennte Wege zu gehen – zumindest in den kommenden sieben Tagen. Ich bitte, dies zu berücksichtigen und mich innerhalb des besagten Zeitraums ausschließlich mittels alternativer Kommunikationsmittel (Brief, Fax Telegramm oder Postpaket) zu kontaktieren. Telefon und SMS sind notfalls auch okay. Freundliche Grüße ...«

Ich klicke auf »Senden« und gehe einkaufen. Die Anfangsinvestitionen meines waghalsigen Vorhabens erweisen sich zu meinem großen Entsetzen als enorm. So erbeute ich für die kommende Woche unter anderem eine Fernsehzeitung, Briefpapier, den Großen Brockhaus als Google-Ersatz, die »Brettspielsammlung Deluxe«, einen Taschenrechner, drei Aufladekarten für mein Handy, die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift »Meine Familie und ich«, Baldriankapseln sowie eine Packung Kellogs Special K Vanilla Cranberry mit 2,5% Fettanteil (keine Ahnung, wie die in meinen Einkaufswagen gekommen ist).

Wieder zuhause erwarten mich auch schon die ersten Antworten auf meine Abschieds-E-Mail. Ob ich vor meinem virtuellen Ableben noch etwas Zeit zum Chatten finden würde, möchte Alex wissen. Wer war noch gleich Alex? Susanne erkundigt sich derweil besorgt nach meinem Gesundheitszustand, während Tom zwar keine Ahnung hat, was ich jetzt schon wieder vorhabe, mir aber dennoch »viel Erfolg bei was-auch-immer« wünscht.

Dann schalte ich den Rechner aus. Für immer – zumindest in den kommenden sieben Tagen.

Keine drei Minuten später frage ich mich ebenso plötzlich wie zusammenhanglos, in welchem Bundesland eigentlich Delmenhorst liegt. Ich schnappe mir den eben erworbenen Brockhaus und schlage nach: Niedersachsen. Geht doch – auch ohne Google ... Kurz darauf möchte ich überraschend wissen, wer oder was sich derzeit auf Position Eins der neuseeländischen Charts befindet. Brockhaus versagt auf ganzer Linie und auch »Meine Familie und ich« ist mir bezüglich dieses Problems keine allzu große Hilfe. Es geht mir ja nicht darum, es wirklich wissen zu müssen – entscheidend ist vielmehr, überhaupt die Möglichkeit zur sofortigen Beschaffung nutzloser Information zu haben. Frustriert werfe ich mir zwei Baldriankapseln ein und gehe ins Bett.

Nach einer unruhigen Nacht – ich werde im Traum von meinem eigenen Second-Life-Avatar mit überdimensionalen »W«s beworfen – stehe ich auf und schlurfe unmotiviert zum Briefkasten. Ich will gerade nach der Zeitung greifen, als mir plötzlich einfällt, dass ich das Abo ja bereits vor mehreren Monaten gekündigt hatte. Dafür finde ich einen handgeschrieben Zettel im Briefkasten.
»Ich weiß, dass Du gerade nicht ins Internet kannst, darfst oder willst und ich respektiere das!«, beginne ich die Nachricht zu lesen, »Aber das hier musst Du Dir bei Gelegenheit unbedingt mal anschauen: http://...«
Ich sollte mir relativ zeitnah neue Bekannte zulegen!

Zurück am Frühstückstisch versuche ich bei einer Schüssel Kellogs Special K Vanilla Cranberry mit 2,5 % Fettanteil herauszufinden, inwieweit sich meine digitale Demenz denn schon gebessert hat. Zu Testzwecken gehe ich dazu die Vornamen meiner engeren Familienmitglieder durch. Anfangs durchaus noch mit Erfolg, jedoch verweigert mein Gehirn bei Onkel Otto plötzlich vehement seine Dienste. Wie hieß er noch gleich? Wenn ich jetzt nur einen kurzen Blick auf unseren digitalen Stammbaum werfen könnte ...

Ich beschließe, das Projekt kurzzeitig zu unterbrechen und boote den Rechner.

Mist!
Wie lautete noch gleich mein Passwort?

... wird fortgesetzt, sobald sich das Erinnerungsvermögen des Verfassers zurückmeldet ...