17.09.08

Raymund Krauleidis

Mein Leben mit lauter Rockmusik

Rückblende. Wir schreiben den Februar des Jahres 1986. Michail Gorbatschow fordert auf dem 27. Parteitag der KPdSU »Glasnost«, der philippinische Präsident Marcos wird unblutig gestürzt und viele Spanier möchten, dass ihr Land aus der NATO austritt. Doch das alles geht mir ehrlich gesagt am Allerwertesten vorbei. Ich bin nämlich gerade mal zwölf. Zwölfeinhalb, um genau zu sein (in diesem Alter legt man auf solche Details noch großen Wert – ein Effekt, der dann etwa ab Anfang 20 spürbar nachlässt und sich später sogar ins Gegenteil verkehrt. Heute bin ich beispielsweise »knapp über 30«).

Mich quälten 1986 dafür ganz andere Probleme. Eins davon hieß »Peter«. Es hatte bislang relativ wenig Vorteile für mich, einen fünf Jahre älteren Bruder zu haben. Ich war ihm körperlich wie verbal unterlegen, durfte nicht einmal annährend soviel wie er und überhaupt wurde der große Bruder allenthalben ernst genommen, während ich als kleiner, unwissender Hosenscheißer galt. Dennoch war mein Bruderherz nicht unwesentlich an meiner musikalischen Früherziehung beteiligt. So überzeugte er mich wenige Jahre zuvor, fortan ein großer Fan der Gruppe KISS zu sein. Ich erteilte die Zustimmung, das gemeinsam bewohnte Zimmer mit Postern von Gene Simmons, Ace Frehley & Co. zu bepflastern und gab auf sein Geheiß hin einen Großteil meines spärlichen Taschengeldes für KISS-Platten aus. Im Nachhinein ein geschickter Schachzug meines Bruders: er selbst hatte somit mehr Geld zur Verfügung, welches dann wiederum in Alben von AC/DC sowie heimlich gerauchte Zigaretten investiert werden konnte.

Doch eigentlich fand ich die Musik von KISS schon immer ziemlich doof. Und auch die Poster machten mir beim Einschlafen irgendwie Angst, was ich jedoch niemals zugegeben hätte – vor allem nicht gegenüber Peter. Nichtsdestotrotz stöberte ich gerne, oft und heimlich in seiner umfangreichen Platten- und MC-Sammlung (MC war die gängige Abkürzung für »Musikkassette« – so etwas wie eine gebrannte CD, nur mit Bandsalat).

Eines schönen Tages stieß ich dort auf eine Kassette die mit den Worten »Master of Puppets« beschriftet war. »Puppets« erinnerte mich irgendwie an »Muppets« (und auch ein wenig an die Augsburger Puppenkiste). Also gab ich dem ganzen unter Zuhilfenahme meines Walkmans – einer Art iPod mit Spulen – eine Chance. Der erste Song trug auch gleich den recht sinnigen Titel »Battery« und klang in meinen kindlichen Ohren wie ein dicht an mir vorbeifahrender Zug. Da ich damals recht gerne mit der Deutschen Bundesbahn unterwegs war, ließ ich das Tape einfach weiterlaufen und landete schließlich beim Titelsong des Albums: »Master of Puppets«.

Zum zweiten Mal in meinem bis dato recht kurzen Leben, wurde ich daraufhin infolge eines Musikstücks von einer Gänsehaut übermannt. Die erste wurde etliche Jahre zuvor übrigens durch das Lied »Sun of Jamaica« von der Goombay Dance Band verursacht – eine Tatsache, für die ich mich bis heute noch sehr schäme.

Fasziniert hörte ich mir das komplette Album an und hatte plötzlich das Gefühl, Teil von etwas Großem zu sein. Ich hatte zwar keine Ahnung von was, teilte meinem Bruder aber dennoch vorsorglich mit, seit heute eine neue Lieblingsband zu haben: Metallica. Zu meiner großen Überraschung hatte er nichts dagegen einzuwenden, die zwischenzeitlich etwas ausgebleichten KISS-Poster sukzessive durch Bilder meiner neuen Helden zu ersetzen. Und auch meine Eltern waren der ganzen Sache gegenüber nicht abgeneigt. Zwar entsprach James Hetfield nicht wirklich dem, was in ihren Augen einem würdigen Vorbild für die eigenen Kinder entspricht, aber wenigstens hatte er keine alberne Maske auf und ließ sich vergleichsweise selten mit blutverschmiertem Mund ablichten. Krach hingegen war für sie das eine wie das andere. Wenn man sich akustisch bislang hauptsächlich von Howard Carpendale ernährt hatte, auch irgendwie kein Wunder ...

Illustration von Martin Rathscheck

Illustration von Martin Rathscheck

Kurze Zeit später besorgte ich mir die beiden Vorgängeralben »Kill 'em all« (»Mach sie alle tot«) und »Ride the lightning« (»Reite den Blitz«) und bearbeitete meine Eltern so lange, bis sie schließlich klein beigaben und mir erlaubten, das Gitarrenspielen zu erlernen. Doch meine Freude darüber war leider nur von kurzer Dauer. Denn während ich mich bereits gemeinsam mit James Hetfield auf den Bühnen dieser Welt spielen sah, präsentierten mir Mutti stolz den Organisten unserer katholischen Dorfgemeinde als meinen künftigen Gitarrenlehrer. Statt in der coolen Hetfield-Haltung »Seek an Destroy« nachzuspielen, saß ich nun – meine Konzertgitarre auf dem Oberschenkel abgestützt (in etwa so wie Nicole, während sie beim Grand Prix 1982 »Ein bisschen Frieden« zum Besten gab) – gelangweilt da und zupfte klassische Etüden und Menuette. Und wenn mein Gitarrenlehrer, ein glatzköpfiger Mann über 60, einmal besonders progressiv gestimmt war, wurde ab und zu auch mal »Kumbaya« angestimmt.

Bald sah ich nur noch einen Ausweg, den Abstand zwischen James Hetfield und mir nicht allzu groß werden zu lassen: ich bestellte mir von meinem mühsam angesparten Geld ein E-Gitarren-Starterset, bestehend aus einer in Südostasien gefertigten Fender Stratocaster Kopie, einem kleinen Billigverstärker sowie den beiden Bücher »Heavy Metal Guitar« und »Heavy Metal Guitar 2« von Peter Bursch (Peter Bursch war so etwas wie der Jean Pütz der Rockgitarrenszene – zumindest rein optisch). Von meinem bisherigen Gitarrenlehrer trennte ich mich aufgrund unüberbrückbarer musikalischer Differenzen. Selbstredend gegen den Willen meiner Eltern. Aber die hatten in dieser Phase eh an nahezu allem etwas auszusetzen, was ich tat: »Bub, geh doch mal wieder zu Frisör!«, »Igitt, ein Ohrring!«, »Ist Dein Radio schon wieder kaputt oder soll das etwa Musik sein?!« und so weiter ...

Die Geschichte meiner Rockstar-Karriere ist schnell erzählt: zusammen mit zwei ebenfalls untalentierten Schulfreunden probte ich einige Male im heimischen Keller. Dabei trafen wir tatsächlich auch ab und zu Töne von irgendwelchen Metallica-Songs – nur leider nie in der richtigen Reihenfolge sowie fernab deren eigentlichen Geschwindigkeit und Virtuosität.

Den ersten und bislang einzigen Auftritt vor Publikum hatten wir dann zu weit vorgerückter Stunde sowie marginal alkoholisiert im Rahmen unseres Abi- Balls. An die Songs von Metallica wagten wir uns aus Respekt vor unseren Helden allerdings nicht heran. Dafür blieb unsere Interpretation von Nirvanas »Smells like Teen Spirit« bis heute unvergessen. Böse Zungen behaupten nach wie vor, dass Kurt Cobain kurz vor seinem Tod eine Videoaufzeichnung von unserem Gig zugespielt worden sein soll, was ich aber für ein Gerücht halte. Dennoch hätte ich gerne die Gelegenheit gehabt, mich eines Tages bei ihm für unseren erbärmlichen Auftritt zu entschuldigen!

Seit diesem denkwürdigen Tag rosten die Tonabnehmer meiner in Südostasien gefertigten Fender-Stratocaster-Kopie im elterlichen Keller munter vor sich hin, und die wohl erfolgloseste Rockband Deutschlands widmete sich im Folgenden anderen Projekten: Jörg wird demnächst Professor an der Uni, Christian ist seit wenigen Monaten Unternehmensberater und ich schreibe mittlerweile Sachbücher über Buchführung und Controlling sowie für kolumnen.de. That's Rock'n'Roll ...

Was mich aber dennoch mein ganzes Leben lang begleiten sollte ist Metallica. So quälte ich mich mit »... and Justice for all« durch die Mittelstufe, entdeckte zu Zeiten des »Black Albums« die Liebe und ließ mich von »Load« und »Re-Load« durch mein schnödes BWL-Studium begleiten. Lediglich »St. Anger« konnte ich nichts abgewinnen – aber das war sicherlich meine Schuld. Als das Album veröffentlicht wurde, hatte ich einfach zuviel Stress im Büro ...

Hetfield, Ulrich und Co. sind für mich wie alte Schulfreunde: man vermisst sie nicht wirklich, freut sich aber umso mehr, wenn sie plötzlich wieder vor einem stehen.

So auch vergangenen Freitag, als ich mir kurz nach Mitternacht das neue Metallica-Album »Death Magnetic« bei Napster downloadete – selbstverständlich ganz legal. Zwar sind MCs, Walkmen und unsere damalige Band inzwischen so mausetot wie die KPdSU, dafür lebte aber der zwölfeinhalbjährige Junge, der damals bei Master of Puppets eine Gänsehaut bekam (und für den der Begriff »gedownloadet« noch ein Wort aus einer völlig anderen Welt war) für einen klitzekleinen Moment im Körper eines zwischenzeitlich knapp-über-30-Jährigen wieder auf. Zugegeben: die Haare sind mittlerweile etwas grauer und ersten Falten zieren mein Gesicht, aber wenn ich Herrn Hetfield Sätze wie »Suicide, I've already died« in sein Mikrophon brüllen höre, fühle ich mich dennoch so lebendig wie schon lange nicht mehr.

Vielen Dank, die Herren! Für Alles!

Und falls Sie sich fragen sollten, was aus meinem Bruder geworden ist: der lässt sich mittlerweile ziemlich gehen. Neulich habe ich ihn sogar mit der aktuellen CD von Mark Medlock erwischt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er demnächst 40 wird. Sad but true ...