18.01.14

Raymund Krauleidis

Früher oder später

Ein kritischer Punkt im Alterungsprozess eines Menschen ist der, ab dem er weitaus mehr Sätze mit »Früher« beginnt als mit »Später«. Meistens ist der damit einhergehende Übergang von (post)jugendlicher Prokrastination zu erwachsener Frustration ein schleichender Prozess, der von den Betroffenen erst dann bemerkt wird, wenn es beinahe zu spät ist. Früher hätte ich nie geglaubt, dass es mich später auch einmal erwischen würde. Sehen Sie, es geht schon los ...

Früher dachte ich zum Beispiel auch, ich würde später einmal reich und berühmt sein. Oder wenigstens nur reich oder nur berühmt. Okay, rein statistisch gesehen habe ich noch knapp 49% der mir verbleibenden Lebenszeit vor mir, aber wenn man bedenkt, dass Albert Einstein gerade einmal 26 Jahre alt war, als er seine Relativitätstheorie veröffentlichte oder Bill Gates schlappe 20 Jahre, als er Microsoft gegründet hat, finde ich das schon irgendwie bedenklich.

Vielleicht hätte ich früher mehr tun sollen, als immer nur darüber zu philosophieren, was später einmal sein wird. Ich hätte währenddessen etwa das World Wide Web erfinden können. Oder das Smartphone. Beides gab es früher bekanntermaßen noch nicht. Stattdessen hatten wir den Großen Brockhaus sowie ein schnurgebundenes Wählscheibenfernsprechgerät der Deutschen Bundespost, das mitten im Wohnzimmer stand. Die NSA gab es früher allerdings auch schon, nur hieß sie damals »Mutter«. Diese saß nämlich, jedes Wort gebannt lauschend, auf der Couch und wies mich in regelmäßigen Abständen auf die unbarmherzig rieselnde Sanduhr hin, die neben dem Wählscheibenfernsprechgerät stand und auf die seinerzeit gültige, achtminütige Telefoneinheit geeicht war.

Abgesehen davon hatten wir früher im Winter viel mehr Schnee – von Lametta einmal ganz zu schweigen. Aber das nur am Rande ...

Manchmal habe ich das Gefühl, ich höre mich schon an wie meine eigene Großmutter. Früher hatte sie mir auch immer erzählt, wie es früher war. Überraschenderweise meistens besser (sieht man einmal von den unschönen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs ab). Aber damit ist jetzt endgültig Schluss! Ab heute werde ich wieder mehr Sätze mit »Später« beginnen und damit aufhören, vertanen Chancen und Möglichkeiten hinterher zu trauern. Schließlich ist noch alles drin. Meine zweite Lebenshalbzeit wurde erst vor wenigen Augenblicken angepfiffen und derzeit steht es unentschieden. Eventuell erreiche im Leben ja doch noch etwas Außergewöhnliches. Womöglich erfinde ich eines schönen Tages das Beamen? Oder einen Fernseher, der automatisch umschaltet, sobald eine Casting-Show oder »Ich bin ein Star, holt mich hier raus« beginnt?

Am besten starte ich meinen persönlichen »Plan B« mit einem dafür geeigneten Zweitstudium. Wie wäre es mit Quantenphysik? Oder Fernsehtechnik? Ich mache mich gleich einmal schlau und lasse mir sofort die entsprechenden Unterlagen zukommen.

Vielleicht mache ich das aber auch erst später ...