22.10.07

Raymund Krauleidis

Scharf ist eine Illusion – oder:
Als ich mit dem Döner brach

So stehe ich hier und komme mir geringfügig betrogen vor. Bin ich etwa Teil einer riesengroßen Verschwörung? Opfer einer mafiösen Organisation? Dabei fing alles ganz harmlos an ...

Mein mittlerweile reichhaltiger Erfahrungsschatz, was Döner Kebap betrifft, ließ mich eines schönen Abends in Ermangelung einer um diese Zeit noch geöffneten Döner-Kebap-Verkaufsstelle auf die waghalsige Idee kommen, mir einen selbigen möglichst originalgetreu in meiner heimischen Küche nachzubilden. Da ich die Zutaten natürlich ebenfalls nicht zuhause hatte, nahm ich mir für den nächsten Tag unter anderem auch einen Besuch im nahe gelegenen Großmarkt vor, um im Falle einer Wiederholung dieser recht unglücklichen Sachlage zur sofortigen Beseitigung des Missstandes in der Lage zu sein.

Döner Kebap leitet sich übrigens aus den beiden türkischen Wörtern »Döner« und »Kebap« ab, deren ins Deutsche übersetzte Kombination so viel bedeutet wie »drehendes Grillfleisch«. Gemäß dem Internet-Alleswisser Wikipedia besteht der Döner Kepab (im Folgenden mit »Döner« abgekürzt) aus »in Marinade gewürzten großen Fleischscheiben, die schichtweise auf einen speziellen, senkrecht stehenden Spieß gesteckt und gegrillt werden, und von denen nach und nach die äußeren, gebräunten Schichten mit einem großen Messer dünn abgeschnitten werden«. Dargereicht wird dieses Fleisch dann meist in einem aufgeschnittenen Fladenbrot – auch Pide genannt – welches zusätzlich noch mit diversen Dreingaben wie Zwiebelringen, Salat und Rotkohl, um nur einige Beispiele zu benennen, bestückt werden kann, wenn nicht sogar muss. »Pimp my Pide«, würde man in MTV-eingefärbtem Deutsch dazu sagen.

So bastelte ich mir zunächst aus einem ausrangierten Plattenspieler, dessen Nadel auszutauschen mich ungefähr soviel kosten würde wie ein nagelneuer mp3-Player der gehobenen Mittelklasse (bei Automobilen also ungefähr vergleichbar mit einem 3er BMW – welcher durch einen lustigen Zufall wiederum auch zu den bevorzugten Kraftfahrzeugen des gemeinen Döner-Konsumenten gehört), einer gekürzten Pflanzen-Rankstange sowie zwei senkrecht um den Plattenspieler aufgestellten Tischgrills mein eigenes Dönerfleisch-Zubereitungsgerät. Um dessen Funktionsweise zu kontrollieren, steckte ich testweise einen saftigen Apfel auf die Rankstange und brut mir so binnen weniger Minuten einen wohlschmeckenden Bratapfel.

Da jedoch Äpfel landläufig nicht unbedingt zu den bevorzugten Döneringredenzien gehören, machte ich mich nach meinem ersten Teilerfolg sofort an die Einkäufe. Voller Vorfreude legte ich zunächst das Dönerfleisch in den Einkaufswagen. Dieses besteht übrigens entgegen anders lautender Gerüchte nicht aus dem Fleisch des Dönertiers, sondern – in Einklang mit der deutschen Hackfleischverordnung sowie der »Festschreibung der Berliner Verkehrsauffassung für das Fleischerzeugnis Dönerkebap« aus Kalb, Rind oder Schaf (vgl. Festschreibung der Berliner Verkehrsauffassung für das Fleischerzeugnis Dönerkebap (1989) Ziffer 1, 1. Halbsatz).

Ich bin stolz darauf, in einem Land leben zu dürfen, in dem es so etwas wie eine Hackfleischverordnung und die »Festschreibung der Berliner Verkehrsauffassung für das Fleischerzeugnis Dönerkebap« gibt. Es vermittelt mir ein gewisses Gefühl von innerer Ordnung, Sicherheit und Stabilität. Während ich zufrieden darüber sinnierte, landeten zunehmend mehr Döneringedenzien in meinem Wagen: Tomaten, Zwiebeln, Rotkohl, Dönersaucen, Gewürzgurken, grüner Paprika sowie Pide. Auf dem Weg zur Kasse fiel mir jedoch glücklicherweise noch rechtzeitig auf, dass sich ein wesentlicher Bestandteil des gemeinen Döners bislang noch nicht in meinem Einkaufswagen befand: Scharf.

Die Dönerunwissenden unter den Lesern seien darauf hingewiesen, dass man die Bestellung eines Döners an einer entsprechenden Verkaufsstelle stets um den Zusatz, ob man Scharf gerne mit dabei haben möchte oder nicht, zu ergänzen hat. In der »Festschreibung der Berliner Verkehrsauffassung für das Fleischerzeugnis Dönerkebap« ist Scharf nämlich nicht zwingend vorgeschrieben. »Einen Döner mit alles ohne Scharf« wäre eine mustergültige Bestellphrase für das türkische Nationalgericht, »einen Döner mit alles und Scharf« eine andere. Scheinbar steht Scharf über allem und kann deshalb – logischerweise – dem ominösen alles auch nicht ohne weiteres subsumiert werden. Ich bin übrigens ein bekennender Anhänger der Scharf-Fraktion, da dieses rote, getrocknete Zauberkraut, dessen Ursprung ich bislang stets in einer Pflanze gleichen Namens vermutete, einem Döner erst die richtige Geschmacksnote verleiht.

So stand ich vor den Gewürzregalen und begann zwischen Curry, Salz, Oregano und diversen Pfeffervariationen nach einem Döschen mit der Aufschrift Scharf Ausschau zu halten. Nachdem der erwartete Erfolg zunächst ausblieb, sprach ich wenige Minuten später eine hilfsbereit anmutende Mitarbeiterin des Kaufhauses an und bat sie freundlich um ihre Mithilfe bei meiner Suche nach Scharf. Obgleich ihr Scharf in Verbindung mit Döner sehr wohl ein Begriff wäre, teilte mir die Dame höflich mit, sei ihr die Existenz eines gleichnamigen Gewürzes bislang jedoch nicht bekannt. Sie vermute viel eher, dass es sich hierbei um eine Variation des Paprikagewürzes handle, fuhr sie fort. Ich negierte ihre These und bat sie darum, den Geschäftsführer sprechen zu dürfen, damit er sich meines Problems annehmen könne.

Der Geschäftsführer, der sich als junger Mann türkischer Abstammung entpuppte, erschien mir auf den ersten Blick kompetent genug dafür, mein Scharf-Problem zufriedenstellend lösen zu können. Ich sollte teilweise Recht behalten. Nachdem ich mein Anliegen formuliert hatte, antwortete er mir zu meiner Ernüchterung lächelnd, dass es ein Gewürz namens Scharf wirklich nicht gäbe und es sich bei dem, was bundes-, wenn nicht gar europaweit als »Scharf« bezeichnet wird, in Wahrheit nur um eine Mischung aus Chili, Basilikum, Oregano, Rosmarin und Zitronenschalen handle.

Der Boden entglitt unter meinen Füßen und mir wurde schwindelig. Ausgerechnet das Lebensmittel, von dem ich bislang angenommen hatte, es wäre ein reiner und ehrlicher Beitrag zur politisch korrekten, weil interkulturellen Ernährung, entpuppte sich als hanebüchenes Lügenkonstrukt und Teil einer surrealen Matrix. Scharf war also nichts anderes als einen groß angelegte Täuschung? Eine – zugegebenermaßen perfekt gemachte Illusion?! Besteht gar ein Zusammenhang zwischen der Nicht-Existenz von Scharf und der Existenz der Redewendung »jemanden getürkt haben«?

So stehe ich also hier an meinem selbst gebauten Dönergrill und lausche dem wohligen Geräusch eines sich sukzessive erhitzenden Apfels. Ist auch besser so. Denn ein solcher ist gesünder als jeder Döner dieser Welt und verursacht außerdem weitaus weniger schlechte Körpergerüche. Zudem – da wird mir jeder beipflichten, der schon einmal in den Genuss eines Bratapfels kommen durfte – schmeckt er auch einfach nur köstlich. Und zwar in echt. Ganz ohne Scharf.