»Haben Sie auch ein persönliches Weihnachtschreiben aus der Personalabteilung erhalten?«, fragt Schmoltke und hält mir dabei ein sorgsam gefaltetes Stück Papier unter die Nase. Kann man hier nicht einmal ungestört Solitär spielen? »Und wie freundlich die das formuliert haben«, frohlockt der Buchhalter mit kindlicher Stimme. Ich werfe einen kurzen Blick auf den Brief.
Dann einen längeren ...
»Ähm ... Schmoltke«, versuche ich ihm die Sache möglichst schonend beizubringen, »die wünschen Ihnen hier ›viel Glück und Erfolg auf Ihrem weiteren beruflichen und persönlichen Lebensweg‹!«
»Nett, oder?!« Ein Augenpaar strahlt durch mich durch eine unmodische Nickelbrille hindurch an.
»Prinzipiell schon. Wenn Ihnen nicht zwei Absätze zuvor zum Jahresende gekündigt worden wäre ...« Ich komme mir zugegebenermaßen schon etwas blöd vor, als ich mich wenige Minuten später Händchen haltend mit einem ohnmächtigen Buchhalter im Sanitätsraum wieder finde. »Mutti ...«, stammelt Schmoltke, als er wieder langsam zu sich kommt. »Ich bin nicht Mutti!«, stelle ich die Sachlage unmissverständlich klar und nutze den Moment, in dem seine krampfartige Schockstarre etwas nachlässt, sofort dazu, meine Hand mit einer ruckartigen Bewegung aus der seinigen zu entfernen. »Pssssst!«, beruhigt ihn Frau Meckle, unsere Ersthelferin, und wischt nochmals etwas Schweiß von Schmoltkes Stirn, ehe sie sich mit den Worten »ich muss dann mal wieder – gleich ist Mittag« verabschiedet. Manche Leute lassen sich wirklich durch gar nichts den Appetit verderben.
Kurz darauf verlasse dann auch ich endlich den Sanitätsraum – mit einem zitternden Buchhalter im Schlepptau. »Wie soll ich das nur Mutti beibringen?«, ertönt es mantragleich zu meiner Rechten. Schon merkwürdig: Ein Arbeitsleben ohne ihn kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen – selbst wenn (oder gerade weil) ich ihn mir eigentlich jeden Tag zur Hölle wünsche.
Schmoltke lässt sich erschöpft auf den Besucherstuhl gegenüber von meinem Schreibtisch fallen. Während ich seine Gesichtsfarbe mustere, fällt mir erstmals auf, wie vergilbt doch die weißen Wände in meinem Büro mittlerweile sind. Das muss bei nächster Gelegenheit unbedingt Frau Wetzlaff, unserer charmefreien Leiterin Facility-Management gemeldet werden – aber jetzt gab es erst einmal Wichtigeres zu tun ...
»Haben Sie eine Ahnung, warum Ihnen gekündigt wurde?«, frage ich nach.
»Wahrscheinlich wegen der Büro-Weihnachtsplätzchen«, schluchzt Schmoltke, »ich hatte letzte Woche versehentlich welche eingesteckt, als ich nach Hause ging. Dort hat Mutti sie entdeckt und aufgegessen. Am nächsten Tag habe ich dann Selbstanzeige erstattet ...« Er reibt sich nervös seinen Nacken.
»Nun ja, wenn das mal kein guter Kündigungsgrund ist«, beruhige ich ihn mit sanfter Stimme und füge noch ein liebevolles »Volldepp!« hinzu, als plötzlich Chef mit Aktentasche sowie einer aus der Kaffeeküche entwendeten Palette Zucker bewaffnet in der Tür steht. »Wie nennen Sie mich? Das hat Konsequenzen«, blökt er mich an, »allerdings erst morgen. Muss meiner Frau jetzt beim Plätzchenbacken helfen. Und grüßen Sie mir nachher den Betriebsnikolaus!« Noch ehe ich das Missverständnis aufklären kann, ist die Palette Zucker mitsamt ihrem Träger auch schon wieder entschwunden.
»Schmoltke, Schmoltke«, seufze ich, »jeder weiß doch, dass der Diebstahl von Firmeneigentum erst ab Leiterebene aufwärts erlaubt ist!« »Sicher", gibt der Buchhalter kleinlaut zu »keine Ahnung, wie ich so schusselig sein konnte...«
»Bewahren Sie eigentlich die Buchungsbelege aus dem Vorstand auf?«
Der Buchhalter blickt mich irritiert an und nickt dann wie ein streberhaftes Schulkind, das gerade gefragt wird, ob es seine Hausaufgaben gemacht hat. »Aber die sind geheim!« »Ach so! Na dann wünsche ich Ihnen und Ihrer Mutti viel Spaß auf dem Arbeitsamt ...«
»Hier sind die Vorstandssachen«, flüstert Schmoltke, nachdem er für einige Minuten verschwunden war. Er blickt nervös um sich, während er mir die fünf prall gefüllten Leitz-Ordner entgegenstreckt. »Aber eigentlich dürfte ich die Ihnen gar nicht zeigen!«, äußert er zum wiederholten Mal seine Bedenken und rückt nebenher aufgeregt seine Brille zurecht.
In Ordner Nummer vier (auf Seite 278, um genau zu sein – Schmoltke hat schließlich alles fein säuberlich durchnummeriert) finde ich auch schon das, was ich suche. Vorsichtig entnehme ich das Blatt, schleiche mich zum Kopierer und versehe die Kopie mit einer handschriftlichen Notiz. Dann falte ich das Blatt zusammen und mache mich auf den Weg zu Frau Blamayer, unserer Leiterin Unternehmenskommunikation.
Der kreidebleiche Buchhalter verharrt nach meiner Rückkehr immer noch regungslos auf dem Besucherstuhl. »Jetzt aber los«, erwecke ich ihn aus seiner Lethargie, »gleich kommt doch der Betriebsnikolaus.«
Im Foyer hat sich bereits eine Menschentraube aus unzähligen Kollegen gebildet. Im Vorbeigehen grüße ich Dworschak aus dem Marketing, Produktentwickler Petersen sowie Frau Wetzlaff, ehe ich mich mitsamt Schmoltke in unmittelbare Nähe zum Vorstand positioniere. »Egal, was gleich passiert, ich erklär's Ihnen später«, flüstere ich dem Buchhalter zu. Dann kommt auch schon der große Auftritt von Frau Blamayer. Weshalb man in unserer Firma nach wie vor an einem weiblichen Nikolaus mit dem Vornamen Uschi festhält, verstehe ich übrigens bis heute nicht.
»Ho-ho-ho«, brüllt die weißbärtige Leiterin Unternehmenskommunikation schrill durch unsere heiligen Hallen, während ein Großteil der Belegschaft entzückte Freudenlaute von sich gibt. Jedes Jahr dieselbe Scheiße. »Howdy-ho«, geht die Nikoläusin nahtlos in die nächste Peinlichkeit über, ehe sie dann endlich zum Höhepunkt ihrer Darbietung kommt: dem Verteilen der obligatorischen Geschenke.
Zunächst ist der Vorstandsvorsitzende an die Reihe, der ein circa 40 mal 70 Zentimeter großes Säckchen überreicht bekommt. Dann erhalten die restlichen Vorstandsmitglieder marginal kleinere Päckchen, ehe Frau Blamayer den Rest ihres Nikolaussacks (die obligatorischen Schokoladenweihnachtsmänner im Corporate Design) gleichwohl wahl- wie lieblos in das aus dem Fußvolk bestehende Publikum wirft. Außer mir nimmt indes kaum jemand davon Notiz, dass sich der Vorstandsvorsitzende unmittelbar nach dem Öffnen seines Säckchens still und heimlich aus dem Foyer schleicht ...
Schmoltke
Illustration von Michael Holtschulte
»Liebe Mitarbeiter«, ist in der Mail zu lesen, die die gesamte Belegschaft nach ihrer Rückkehr an die Arbeitsplätze erwartet.
»In der jahrhundertealten Tradition gestandener Monarchen, möchte auch ICH die vorweihnachtliche Zeit dazu nutzen, Gnade walten zu lassen. Deshalb widerrufe ich hiermit sämtliche zum Jahresende ausgesprochenen Kündigungen. Frohe Weihnachten wünscht Ihnen und Ihren Familien Ihr Vorstandsvorsitzender«
Schmoltke strahlt wie ein Honigkuchenpferd, als er kurz darauf in mein Büro zurückkehrt. »Wie haben Sie Teufelskerl das nur wieder hinbekommen«, möchte er wissen. Beim Versuch, mir dabei auf die Schultern zu klopfen, rutscht er etwas unglücklich ab und stößt sich seinen linken Handrücken an der harten Plastikverkleidung meines Schreitischstuhls.
»Wäre doch irgendwie peinlich, wenn der Aufsichtsrat ausgerechnet am Fest der Liebe erfahren würde, dass unser Oberguru seine regelmäßigen Besuche im ›Club d'amour‹ über die Firmenkreditkarte abrechnet«, antworte ich beiläufig.
»Genial!«, schwärmt der Buchhalter mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht. »Und was ist dieser ›Club d'amour‹ genau?«
»Ein anderes Mal, Schmoltke – ein anderes Mal!«
»Okay, bin dann jetzt bei Mutti«, verabschiedet sich der Buchhalter und läuft mit hängenden Schultern in Richtung Tür. Dann dreht er sich noch einmal kurz um. »Ich wünsche Ihnen ein Frohes Fest. Und den Lesern von kolumnen.de natürlich auch!«
Ich richte es Ihnen hiermit gerne aus ...
Wo sind die vielen anderen Kolumnen der wahnsinnigen Büroreihe »Business as usual« von Raymund Krauleidis hin?
Die können Sie seit Ende 2009 als Büroroman »Schmoltke & Ich« lesen!