[english] This column's translation: »The Sunchimes (1)«

01.07.08

Michael Meyn

Die Sunchimes (1)

Den ersten Mord beging sie vor knapp vier Jahren. Ihre Augen verrieten keine Spur von Zaghaftigkeit. Im Gegenteil. Entschlossen peilte sie das ahnungslose Opfer an, schlug mit einem dicken Knüppel so lange drauf ein, bis es sich nicht mehr wehren konnte und zu schwach für eine Flucht war. Ich hörte Knochen krachen und sah Blut in alle Richtungen spritzen. Der Todesstoß kam von oben, mit viel Schwung und einem übergeschnappten »Friss Dreck, du Kacker!« So kannte ich mein Rippchen gar nicht. Als Schaulustiger fühlte ich mich natürlich mitschuldig. Auch das Plündern des Leichnams schockierte mich, hält man sich die eher dürftige Beute von drei Kupfermünzen vor Augen.

Mein Rippchen ist Beatrix Sunchime, Magier des 80. Levels in der Welt von Everquest. Die Macher dieses Online-Spiels werben mit einem einzigen Slogan: »You're in our World now!« Das zieht. Und zwar so sehr, dass es in Amerika bereits Ehepsychologen gibt, die sich genau auf dieses Thema spezialisiert haben. Kein anderes Spiel hat mehr Ehen zerstört als Everquest.

Heute braucht Beatrix Sunchime den Knüppel zum Morden nicht mehr. Sie zaubert sogenannte Pets aus der dünnen Luft herbei. Diese Wesen – gewöhnlichen Haustieren in keinster Weise ähnelnd – erledigen jede Drecksarbeit. Mrs. Sunchime steht nur da, schaut zu und fleddert am Ende die Entschlafenen. Ich glaube, sie ist inzwischen stinkreich. Sie trägt fürstliche Gewänder und bewohnt eine prunkvolle Villa im Süden der Stadt Qeynos. Wildfremde Gestalten verbeugen sich ehrerbietig vor ihr. Der Neid aus niederen Leveln bringt die Luft zum Knistern, derweil Beatrix selbstgefällig die virtuelle Schöpfung lustwandelt.

Bis ich von der Arbeit komme. Dann will ich mein Abendessen haben! In der Vergangenheit klappte das leider immer seltener. Unzählige Male kam ich nach Hause, schloss die Tür auf und trat in einen geruchlosen Flur. Meistens weiß ich schon morgens, was es zu essen gibt und mit dieser Vorfreude kehre ich heim. Ohne Gerüche im Flur denke ich: Scheiße! Und genau jenen Ausdruck benutzte ich immer öfter. »Ich bin gleich fertig, Schatz«, lautete dann die typische Begrüßung aus meiner Schreiberecke, meiner Oase der Ruhe, die – wenn Beatrix in Aktion trat – mit wilden Schlachtrufen erfüllt war. »Wir müssen nur eben schnell diesen Drachen killen.« Für Everquest-Spieler bedeutet »nur eben schnell« etwa vier bis sechs Stunden. Oft schlief ich hungrig auf der Couch ein.

Wenn es am schönsten ist, soll man nach Hause gehen, dachte sich unser PC an einem sonnigen Sonntag im März und stellte daraufhin den Betrieb für immer ein. Ich stutzte. Was haben die Menschen eigentlich früher gemacht, als es noch keine Computer gab? Ich weiß es nicht mehr. Vermutlich stand man untätig vor einer Wand. Ein Leben ohne PC ist für mich undenkbar. Ein Leben ohne Beatrix Sunchime ist für mein Rippchen undenkbar. Davon setzte sie mich in Kenntnis, noch ehe die letzten Rauchschwaden des durchgeschmorten Computers durchs offene Fenster gezogen waren: »Meine Existenz hat ihren Sinn verloren ...«

»Sag sowas nicht, Schnuckie. Ich werde noch heute Abend einen neuen Computer besorgen.«

In ihrer Stimme klang Verzweiflung, aber auch Hoffnung. »Wirklich? Können wir uns das denn leisten?«

Mein mechanisches Gehirn quietschte kurz, was immer passiert, wenn ich einen plötzlichen Einfall habe.

»Eigentlich nicht. Aber ich werde schon etwas Billiges finden.«

Etwas Billiges fand ich auch. Ein Superschnäppchen, fast so preiswert wie ein Besuch im Zoo und – besonders wichtig – absolut untauglich für Everquest. Staunend wurde ich Zeuge, wie meine neuste Errungenschaft sage und schreibe 17 Minuten zum Hochfahren brauchte. Touchdown! Nie wieder würde ich auf mein Abendessen verzichten müssen.

Mein Rippchen schob mich grob zur Seite, um ihr Spiel zu installieren. »Ich komme, Beatrix!«, rief sie, wobei sie mich an einen wahnsinnigen Wissenschaftler erinnerte, der im Begriff war, das Tor zu einer anderen Dimension aufzustoßen. »Nur noch ein paar Minuten!« In weiser Voraussicht schaffte ich die größtmögliche Distanz zwischen uns und stellte mich in die süd-westliche Ecke der Duschkabine. Ihre entsetzlichen Schreie ließen nicht lange auf sich warten. »Jetzt nur nicht schwach werden, Micha«, flüsterte ich zu mir selbst. Hier stand weitaus mehr auf dem Spiel als das Seelenglück einer Cyber-Killerin.

Nachdem sie in einem schlimmen Wutanfall zwei bis drei Räume unserer Wohnung demoliert hatte, machte sich mein Rippchen auf die Suche nach ihrem Gatten. Sie fand ihn hinter der Duschtür, packte ihn am Kragen, zog ihn ganz nahe zu sich heran und starrte zähnefletschend in sein wild zuckendes Gesicht.

»Der Kasten funktioniert nicht!«

»Das kann nicht sein«, entgegnete der Gatte. »Er ist brandneu.«

»Ich sage dir ...«. Sie sprach nun sehr langsam und mich dünkte, dass sie sich gerade nach ihrem dicken Knüppel sehnte. »... der Kasten funktioniert nicht.«

»Hm, das ist schade. Gibt's bald Abendessen?«

Mein geistreiche Frage war der Auslöser für eine Gedächtnislücke von etwa einer Woche. Die erste Erinnerung war das laute Zuschlagen der Wohnungstür sowie ein Zettel auf dem Wohnzimmertisch: »Bin bei Mike. Everquest spielen. Essen steht im Supermarkt.«

Mein guter Freund und Arbeitskollege Mike, ebenfalls ein großer Everquest-Fan, hatte sich wieder mal von seiner großzügigen Seite gezeigt und mein Rippchen zu sich nach Hause eingeladen, damit sie dort spielen konnte. Von diesem Tag an sah ich sie nur noch selten. Moment, das muss ich präzisieren: Von diesem Tag an sah ich sie überhaupt nicht mehr. Unser gemeinsames Eheleben fand nur noch in sporadischen Telefongesprächen statt, die in etwa wie folgt verliefen:

»Wann kaufst du endlich einen neuen PC?«

»Ich arbeite dran. Nur noch zweihundert Überstunden, dann habe ich das Geld zusammen.«

Kleine Notlüge. In Wahrheit genoss ich die Zeit an meinem lahmen Rechner, ließ mir jeden Abend Pizza kommen und schrieb zwei erotische Romane plus ein Drama über einen sehbehinderten Busfahrer.

»Ich vermisse dich, Schnuckie!«

»Du weißt, was du zu tun hast ...«

Unterdessen erschien Mike regelmäßig mit dunklen Augenrändern zur Arbeit.

»Flucht deine Frau immer so laut beim Spielen?«, fragte er mich gähnend.

»Ja. Die ganze Nacht durch.«

»Genau! Dabei machte sie online immer einen fast lieblichen Eindruck.«

»Tja, wenn einen die Realität in den Hintern beißt ...«

»Weißt du, ich kann dir was borgen, wenn's am Geld für einen neuen Computer liegen sollte.«

»Nicht nötig. Trotzdem danke.«

»Kann ich heute Abend bei dir schlafen?«

»Nein.«

Mein Mitleid mit Mike hielt sich in Grenzen. Er hatte mein Rippchen damals verführt, ihr stundenlang vom fantastischen Spiel Everquest erzählt und sie schließlich überredet, einen Versuch zu wagen. Das hatte er nun davon. Von seinen Jammereien wollte ich nichts hören. Mir ging es gut!

Erster Unmut keimte in mir auf als ich eines Morgens frisch geduscht vor dem Kleiderschrank stand und keine saubere Unterhose finden konnte. Ich war mit diesem Problem völlig überfordert, da es sich mir in meinem Leben noch nie präsentiert hatte. Saubere Unterhosen waren immer dagewesen. Nicht viel später gingen mir die Socken aus. Es folgten kurze Hosen und T-Shirts. Weil ich nicht nackt zur Arbeit gehen wollte, meldete ich mich krank und grübelte über Alternativen nach. Eine Waschmittelwerbung im Fernsehen brachte mich auf eine Idee. Irgendwo in unserer Wohnung musste sich eine Waschmaschine befinden.

»Wir haben keine Waschmaschine«, klärte mich mein Rippchen am Telefon auf. »Du musst in die Waschküche gehen. Insgesamt gibt es vier in der Anlage. Such dir die schönste aus.«

Ich bedankte mich für die Auskunft, streifte mir das Kleidchen über, welches am wenigsten weiblich wirkte und fuhr ins nächste Kaufhaus, um mich dort komplett neu einzukleiden. Nach diesem teuren Unterfangen konnte ich mir keine Pizza zum Abendessen leisten. Hungrig schlürfte ich eine Tütensuppe und ging mit knurrendem Magen zu Bett.

»This place stinks!«, schimpfte Wulfgäng am nächsten Morgen in Anspielung auf das verschmutzte Katzenklo und setzte mir einen dampfenden Haufen ans Fußende des Bettes.

»Bist du irre?!«, schrie ich angewidert. »Ich reiße mich seit fast einer Woche zusammen, weil wir kein Klopapier mehr haben und du scheißt mir ins Bett?«

»This is only the beginning«, prophezeite das Haustier kühl. Dann hüpfte Wulfgäng auf mein Kopfkissen, das sie mit ihren speziellen Drüsen markierte. »The next load will go down right here!«

Es klopfte an der Haustür. Warnend hielt ich Wulfgäng einen Zeigefinger vor die frech grinsende Schnauze. »Zwinge mich nicht, dich einschläfern zu lassen!« Dann öffnete ich die Tür. Unsere Nachbarin, die dicke Penny, hielt sich nicht mit überflüssigen Begrüßungsfloskeln auf.

»Is your wife home?«

»She doesn't live here anymore«, antwortete ich gereizt.

»What did you do to her?« Penny stemmte die Fäuste in ihre mächtigen Hüften. Ihr Blick verfinsterte sich. Ihre dunkle Hautfarbe wurde noch dunkler.

»Nothing«, stammelte ich. »She's staying with my coworker.«

Ich hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, da machte Penny auch schon kehrt und stampfte davon. In der Ferne hörte ich eine Glocke in der Nachbarschaft und Pennys aufgeregte Stimme: »Folks, you're not gonna believe this!«

Es war höchste Zeit, mein Rippchen wieder nach Hause zu bringen.

Die Sunchime (2)