06.12.09

Michael Meyn

Besuch aus Germanyland – Klasse Wetter

Las Vegas ist auch – oder ganz besonders – im Winter schön. Für den brutalen Sommer wird man von November bis April mit einem frühlingshaften Klima entschädigt. Blauer, wolkenloser Himmel soweit das Auge reicht und Sonne satt. Nun lebe ich schon so lange hier und trotzdem passiert es mir immer wieder, dass ich vergesse zur Arbeit zu gehen, weil ich mir einbilde ich sei im Urlaub.

Kaum betraten die Krafziks amerikanischen Boden, zogen dunkle Wolken auf. Graue, ungetüme Wolken, die bei Nacht von den Lichtern der Stadt in einem schmutzigen Orange angestrahlt wurden. Kräftige Windböen fegten durch die Straßen, wirbelten Staub auf und bildeten kleine Twister, welche so manchen Fußgänger schneller von A nach B beförderten als ihm lieb war. Kurz und gut: Nicht nur der Butterfly-Effect kann das Wetter beeinflussen; wenn Deutsche reisen, gerät alles aus dem Gleichgewicht.

Unseren Ausflug zum Grand Canyon unternahmen wir dennoch. Der Vorteil hier im amerikanischen Westen gegenüber Germanyland liegt nämlich darin, dass selbst das übelste Tief nie lange verweilt. Ein kleiner Regenschauer hier, ein heftiges Stürmchen dort, und schon scheint wieder die Sonne. Darum riet ich unserem Besuch, nur leichte Kleidung mitzunehmen. Frau Tülle packte trotzdem noch schnell ein Strickjäckchen ein, nur für den Fall. Ich grinste in mich hinein, weil ich wusste, dass sie die Jacke nicht brauchen würde.

60 Meilen vor unserem Ausflugsziel zwang uns ein Schneesturm in einem kleinen Örtchen namens Williams anzuhalten. Funktionierende Scheibenwischer hätten die Fahrt verlängern können. Da es in Las Vegas fast immer nur dann regnet, wenn ich mit meinem dicken Hintern im Bett liege, hatte ich es bislang nicht für nötig gehalten, Geld in derartige Reparaturen zu stecken. Dicke, weiße Flocken klebten auf der Windschutzscheibe fest und blockierten die Sicht auf die Fahrbahn.

»Das zieht schnell vorüber«, beruhigte ich unseren Besuch, nachdem ich den Wagen am Straßenrand zum Stehen gebracht hatte. »In spätestens 30 Minuten pendelt sich die Temperatur auf angenehme 25 Grad ein. Ganz sicher. Ist immer so im Wilden Westen.«

Frau Tülle traute dem Braten jedoch nicht so richtig. Zitternd schlüpfte sie in ihr Strickjäckchen und zog es fest zu. Auch mein Rippchen fror und verlangte schroff meinen Lieblingspullover, den sie – wenn es nach ihr gegangen wäre – schon vor Jahren entsorgt hätte. Belustigt zeigte ich ihr durch den Rückspiegel einen Vogel. Jürgen war in seiner eigenen Welt. Er betrachtete die Umgebung durch die Linse seiner Digi-Cam und fotografierte so ziemlich jede Schneeflocke mindestens zweimal. Amerikanisches Wetter. Sein ganzes Leben hatte er darauf gewartet.

Wir beschlossen die Wartezeit mit einer guten Mahlzeit zu überbrücken. In einem Diner im typischen Stil der 50er Jahre kehrten wir zum frühen Abendessen ein. Ein Gast an der Theke sah uns vorwurfsvoll an und wollte wissen, ob wir das beschissene Wetter mitgebracht hatten. Mein Rippchen und ich zeigten verschämt auf unseren Besuch:

»Germans ...«

Mit einem Nicken, das viel Wissen und Weisheit, aber auch Verachtung durchblicken ließ, wandte sich der Gast wieder seinem Bier zu und murmelte etwas wie: »Nix hat sich geändert. Verderben einem alles. Selbst heute noch.«

Das Essen war dickflüssig bis zäh. Jürgen knipste es dennoch aus mehreren Perspektiven. Amerikanisches Essen! Der Mann war im siebten Himmel. Einmal musste ich ihn fotografieren, wie er sich mit einem Pommes und dem Salzstreuer beschäftigte. Seine Frau durfte nicht mit auf das Bild.

Meine Wetterprognose erwies sich als zu optimistisch. Es schneite noch immer. Wir beschlossen, die Nacht in Williams zu verbringen. Inmitten von Schneewehen den Grand Canyon zu betrachten war nicht unser Ding. Jürgen hätte es schon gefallen. Dennoch suchten wir ein Motel auf, schäbig und billig. Hauptsache, ein Dach über dem Kopf. Noch an der Rezeption knobelten Jürgen und ich aus, wer den kleinen Inder mit aufs Zimmer nehmen musste. Wir zogen Streichhölzer. Jürgen zog den Kürzeren. Pech für unseren Besuch. Mein Rippchen und ich fielen uns in die Arme. Wir versprachen uns lauten und schmutzigen Sex für jene Nacht.

In einem Supermarkt besorgten wir uns reichlich Alkohol und Knabbersachen. Ohne Absprache war allen klar, womit wir den Rest des Abends verbringen würden: Doppelkopf. Ich würde es nicht offen zugeben, aber für mich war Doppelkopf der einzige Grund, warum ich dem Besuch der Krafziks zugestimmt hatte. Doko ist ein großartiges Kartenspiel und macht auf Dauer süchtig.

Die Schlacht fand in unserem Zimmer statt. Jürgen beschwerte sich nach jedem Austeilen über sein Blatt. Das hatte er schon immer getan, doch diesmal machte er Beweisfotos. Wir ignorierten ihn. Mein Rippchen schnauzte mich an, weil ich permanent mit der Karo-Neun rauskam. Hin und wieder auch zweimal, wenn ich beide hatte. Mit Karo-Neunen war sie schon immer überfordert. Jürgens Gattin saß in fast jeder Runde auf beiden Tüllen, den höchsten Trümpfen im Spiel. Darum nennen wir sie auch Frau Tülle und mögen sie nicht so sehr. Wir beschimpften sie, warfen Abfälle in ihre Richtung.

Irgendwann schellte das Telefon. Es war der kleine Inder. Er hatte schlecht geträumt und weinte. Hektische Aufbruchstimmung bei den Krafziks. Ich zwinkerte meinem Rippchen zu. Gleich würde es laut und schmutzig werden ...

Lesen Sie die gesamte Reihe »Besuch aus Germanyland / Briefe vom kleinen Inder« von Michael Meyn und Elke Schröder:

  1. Michael Meyn: Die Ankunft
  2. Michael Meyn: Die Luft ist raus
  3. Michael Meyn: Klasse Wetter
  4. Michael Meyn: Grand Canyon
  5. Elke Schröder: Briefe vom kleinen Inder (1)
  6. Michael Meyn: Friss oder stirb!
  7. Michael Meyn: Explosionsgefahr beim Doppelkopf
  8. Elke Schröder: Briefe vom kleinen Inder (2)
  9. Michael Meyn: In der Stille der Nacht
  10. Elke Schröder: Briefe vom kleinen Inder (3)
  11. Michael Meyn: Da waren's nur noch zwei
  12. Elke Schröder: Briefe vom kleinen Inder (4)