Heiteres Vogelgezwitscher ließ mich erwachen. Frisch und munter entstieg ich dem Bett und schaute aus dem Fenster. Der Schnee von gestern war nicht mehr. Blauer Himmel und Sonnenschein. Geniales Ausflugswetter! Ich schüttelte mein Rippchen.
»Wach auf, Schnuckie! Der Grand Canyon wartet.«
»Können wir ihn noch etwas warten lassen?«, murmelte sie schlaftrunken. Sie brauchte ihre 14 Stunden Schlaf, sonst kam sie nicht in die Gänge. Außerdem hielt sich ihre Vorfreude aufgrund extremer Höhenangst in Grenzen. Zum Glück wusste ich genau, wie ich sie locken konnte:
»Dort gibt es Indianer ...«
Ich vernahm einen leichten Luftzug und sah wie die Bettdecke in sich zusammensackte. Yoda war damals auf die gleiche Weise verschwunden. Im Badezimmer wurde die Dusche betätigt. Zufrieden ging ich zum Telefon und wählte die Zimmernummer der Krafziks:
»Hm?«
»Rise and shine, sleepy heads!« Dabei konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Welcher Deutsche war schon in der Lage am frühen Morgen Englisch zu verstehen?
»Who the hell is this?« Das hörte sich nicht nach Frau Tülle an. Eher nach einer schwarzen, dicken, stark verärgerten Frau aus Brooklyn.
»Ömmm ...«
»How dare you call here at six o' fuckin' clock in the mornin' you low-life piece of sh-«
»Sorry, wrong number.« Eingeschüchtert legte ich auf. Da musste ich wohl irgendwie die Zimmernummern verwechselt haben. Ich lief rüber zu Zimmer 117 und klopfte an die Tür. Frau Tülle war schon wach und mies gelaunt. Angeblich hatte sie irgendein Idiot am Telefon geweckt.
Nach einem ausgedehnten Frühstück im Diner machten wir uns auf den Weg. Die knapp einstündige Fahrt war ein Erlebnis. Wir genossen die atemberaubende Landschaft und waren immer wieder entzückt über die weiten Ebenen, die sich um uns herum erstreckten. An der Grenze zum Nationalpark mussten wir kurz anhalten, um eine Besuchergebühr zu bezahlen. »Vier Erwachsene und ein kleiner Inder«, informierte ich den Park Ranger, welcher mir daraufhin 20 Dollar abknöpfte.
Ich hatte den Wagen noch nicht ganz geparkt, da spurtete Jürgen auch schon los. »Fotos, Fotos, Fotos!«, kicherte er halb wahnsinnig. »Hübsche Fotos!« Weit kam er nicht. Bereits beim ersten Kaktus am Straßenrand baute er sein Stativ auf und prüfte fachmännisch die Lichtverhältnisse.
»Ich will Indianer sehen!« Mein Rippchen zeigte fordernd auf eine kleine Hütte vom Stamm der Hopi. Sicherlich eine Nachbildung à la Disneyland. Schon die Tür sah ausladend aus; sie reichte mir gerade bis zur Hüfte. Da wollte ich nicht rein. Ich wartete draußen und rauchte, während mein Rippchen geduckt durch den niedrigen Eingang verschwand, dicht gefolgt von Jürgen und Frau Tülle. Kurz darauf hörte ich das Klicken seines Fotoapparates, das übliche »Hübsche Fotos!« sowie aufgebrachte Rufe einiger Touristen. Ehrlich, ich wollte da nicht rein. Sechs Zigaretten später kamen sie endlich wieder heraus. Sie trugen Plastiktüten, gefüllt mit Postkarten, T-Shirts und Indianerschmuck.
»So, schauen wir uns jetzt den Grand Canyon an?«, fragte Jürgen.
Ich witzelte: »I hopi so.« Dabei lachte ich laut und ganz allein.
Die Aussicht war einzigartig. Wir staunten schweigend über das, was sich vor uns in seiner ganzen Pracht darbot. Zäune oder Mauern, die einen vorm Absturz hätten bewahren können, gab es nicht. Wer sich zu nahe an den Rand wagte, tat dies auf eigenes Risiko. Ein schmaler Pfad verlief parallel zur Schlucht. Zumeist mit reichlich Abstand, doch manchmal schlängelte sich der Weg so nahe am Abgrund entlang, dass man das Gefühl bekam, der gigantische Canyon wolle einen verschlucken. Mein Rippchen wurde kreidebleich. Sie musste sich setzen.
Jürgen war auf einen Punkt in der Ferne fixiert. »Traumhaft!«, sagte er zu sich selbst. Dann raste er wieder los. Ich hatte Mühe ihm zu folgen. Irgendwann entdeckte er eine Eidechse auf einem kahlen Felsen. Sofort wurde das Stativ aufgestellt.
»Von Echsen kann man viel lernen«, erklärte er mir und leckte sich nervös das rechte Auge. So ging es viele Stunden weiter, bis er mir plötzlich zuflüsterte:
»Bist du bereit?«
»Bereit?«
»Na, du weißt schon ...« Seine Stimme klang verschwörerisch. Mit ernster Miene sah er mir in die Augen. Es dämmerte mir.
»Oh. Ja, ich bin bereit. Wo sind unsere Frauen?«
»Die sitzen dort hinten auf einer Bank. Niemand kann uns sehen. Jetzt oder nie!«
»Ok, aber wir müssen vorsichtig sein. Und vor allen Dingen: keine Fotos!«
»Das kann ich nicht versprechen.«
Ich fasste meinen Freund fest am Arm. »Jürgen, keine Fotos!«
»Also gut. Wie sollen wir es machen?«
»Gemeinsam und auf drei.«
»Alles klar. Bringen wir es hinter uns.«
Ich atmete tief durch. »Eins ... zwei ... drei!«
Mit vereinten Kräften packten wir den kleinen Inder und warfen ihn über den Rand der Schlucht. Er quiekte kurz auf, ehe er in der Tiefe verschwand. Neben mir klickte es.
»Ich glaube, ich habe sein verdutztes Gesicht noch einfangen können«, sagte Jürgen arglistig grinsend und deutete auf seine Kamera. Möglicherweise hatte er uns damit den perfekten Mord versaut.
Lesen Sie die gesamte Reihe »Besuch aus Germanyland / Briefe vom kleinen Inder« von Michael Meyn und Elke Schröder: