21.09.08

Michael Meyn

Ein wahrer Held

Hinter einem Müllcontainer duckend observierte er die kleine Siedlung. Im Verlauf des Tages hatte ihm die Sonne Nacken, Unterarme und Waden schwer verbrannt. Die Mauer hinter ihm spendete ausreichend Schatten, in dem der nach Atem ringende Mann dankbar länger verweilte als es die gefährliche Lage zuließ. Er musste sich beeilen, denn hinter jener Mauer waren seine Verfolger im Anmarsch. Noch ertönten ihre aufgebrachten Rufe und das Bellen der Spürhunde in weiter Ferne, doch das würde sich schnell ändern. Er hatte die Hoffnung, ihnen zu entkommen, schon längst aufgegeben. Trotzdem bestand noch der Hauch einer Chance, seinen Auftrag ausführen zu können. Die Aussicht auf Erfolg war ihm wichtiger als sein eigenes Leben. Er hatte nie daran gezweifelt, dass er sich im Ernstfall opfern würde, und nun – dem nahenden Tod in den gierigen Schlund blickend – war er sich so sicher wie nie zuvor: Es war ihm eine Ehre für sein Land zu sterben.

Der Körper des gehetzten Helden wurde von einem letzten Schub Restenergie durchflutet. Langsam richtete er sich auf und blickte um sich. Irgendwo hier in dieser Siedlung lebte sie: Die Kontaktperson, die es zu erreichen galt, ehe die hysterische Meute ihn bei lebendigem Leib zerfleischen würde. In seiner Handfläche waren die Adresse und Apartmentnummer eintätowiert. Selbstverständlich als Geheimcode, um die Kontaktperson nicht zu gefährden. Insgesamt gab es 444 Apartments in der Siedlung, doch der Mann kam nicht unvorbereitet. Auf einem Satellitenfoto hatte er sein Endziel rot eingekreist. Ein letztes Mal prägte er sich die Umgebung ein, griff nach seinem Feuerzeug und verbrannte mit zitternden Händen das Foto. Dann machte er sich entschlossen auf den Weg.

Nur noch wenige Schritte trennten ihn von seinem Ziel. Seine Augen brannten vom Schweiß. Vielleicht was es auch Blut. Er hatte sich beim Sprung über die Mauer im Stacheldraht verfangen und neben seiner Kleidung auch die Stirn aufgerissen. Schmerzen spürte er kaum. Wenn überhaupt, dann waren es Schmerzen des Glücks. Die Treppenstufen zum Apartment der Kontaktperson erklomm er in einem Zustand grenzenloser Euphorie. Er hatte es geschafft!

Noch ehe er an die Tür klopfen konnte, wurde sie bereits geöffnet.

»Can I help you?«

Verwirrt stellte der Mann seine Atmung ein und schloss die Augen. Leise zählte er bis drei. Fast widerwillig öffnete er die Augenlider und sah sich zu seiner Verblüffung noch immer der gleichen Situation gegenüber stehen.

»Can I help you?«, wiederholte Wulfgäng nun etwas ungeduldig, woraufhin der erschöpfte Mann kraftlos auf die Knie sank.

»Wer ist da?«, rief ich aus meiner Schreiberecke.

»Some guy«, antwortete unser Haustier. »He looks homeless. Can I keep him?«

Neugierig trat ich in den Flur und betrachtete das Häufchen Elend an der Türschwelle. Sofort fiel mir der Schriftzug auf seinem durchlöcherten T-Shirt auf: McCain/Palin '08. Das ist aber mutig, dachte ich und griff dem angeschlagenen Draufgänger unter die Arme.

»Mr. Meyn?«, fragte er unsicher.

»Yes.«

Erleichterung machte sich auf seinem Gesicht breit.

»I come in peace but I must hurry.«

Aus seiner Hosentasche holte er ein blutbeflecktes Dokument hervor. Ob er mir eine wichtige Frage stellen dürfe, wollte er wissen. Ich nickte. Keuchend gab er mir eine Auswahl von fünf Themen: Wirtschaft, Energiepreise, Nationale Sicherheit, Krankenversicherung und Umweltschutz.

»Which of these issues is ...« Er verlor kurzzeitig das Bewusstsein, fing sich aber wieder, nachdem ich ihm zweimal leicht ins Gesicht schlug. »Which of these issues is the most important to you?«

»National security«, entgegnete ich ohne zu zögern.

»Thank you, Sir. My work is done!«

Sein Mund verformte sich zu einem seligen Lächeln, während er auf dem Papier ein Kreuzchen machte. Plötzlich schnellte sein Kopf zur Seite.

»They are here. I must leave now!«

Er überreichte mir das Dokument mit der Bitte, es an die entsprechende Stelle weiter zu leiten. Normalerweise würde er das selbst tun, erklärte er, doch hatte er arge Zweifel diese Siedlung lebend zu verlassen.

»Farewell, friend!« Dann humpelte er die Treppe hinunter und verschwand wenig später im Gestrüpp unweit des Swimming Pools.

»Wer war denn das?«, fragte mein Rippchen, als ich mir in der Küche ein Glas Wein einschenkte.

»Einer dieser fleißigen Wahlhelfer. Netter Kerl.«

»Wollte er dich wieder von Obama überzeugen?«

»Nee, der war tatsächlich aus dem Lager von McCain.«

»Ach? Das ist aber mutig!«

»Das dachte ich auch sofort. Ein wahrer Held, wenn du mich fragst.«

»Too bad I couldn't keep him«, schmollte Wulfgäng.