22.01.10

Michael Meyn

Besuch aus Germanyland – Da waren's nur noch zwei

In einer Szene aus »Jäger des verlorenen Schatzes« kämpft sich mein Lieblingsheld Indiana Jones durch eine Höhle mit vielen tödlichen Fallen und steht am Schluss unversehrt vor dem Objekt seiner Begierde: Eine kleine goldene Skulptur auf einem schlicht und harmlos wirkenden Podest. Indy – fast immer ungeschickt, doch selten dumm – weiß genau, dass er nicht einfach nach dem Schatz greifen darf. Er hat ein Säckchen Sand parat, und dieses Säckchen soll dazu dienen, den Platz der Skulptur einzunehmen, um keine weiteren Fallen auszulösen.

So ähnlich fühlte ich mich, als ich nachts ins dunkle Schlafzimmer schlich, vorsichtig den Koffer der Krafziks öffnete und mich anschickte, blitzschnell und geräuschlos den Kulturbeutel mit dem kleinen Inder auszutauschen. Es funktionierte. Leise verharrte ich für einen Moment in geduckter Körperhaltung und erwartete, dass das Haus erbeben und Kalk von der Decke rieseln würde.

»Micha?« Frau Tülle war aufgewacht. »Bist du das?«

Ich musste mich sputen. »Nein«, antwortete ich und trat den Rückzug an. Im Film wird Indy nun von einer riesigen Kugel auf Trab gehalten. Bei mir war es mein Rippchen, die schlaftrunken in den Flur trat und auf das Badezimmer zusteuerte. Den Kulturbeutel fest unterm Arm geklemmt, sprang ich durch ein offenes Fenster in die Freiheit, landete auf dem weichen Gras vor unserem Haus und direkt vor Jürgens Füßen. Er wirkte überraschend ausgeschlafen als er mir sein Eigentum entriss. »Nice try«, prahlte er mit seinen frisch erworbenen Englischkenntnissen. »Aber das wäre ein schlechter Tausch gewesen.«

Am Frühstückstisch herrschte Stillschweigen. Über meine missratene Aktion, den Krafziks noch kurz vor ihrer Abreise den kleinen Inder unterzujubeln, wurde kein Wort verloren. Niemand wollte am letzten Tag einen Streit vom Zaun brechen. Jürgen würzte grinsend sein Rührei mit Salz und Pfeffer. Gelegentlich kicherte er. Seine Frau warf mir über den Rand ihrer Kaffeetasse diabolische Blicke zu. »Uns kannst du nicht so leicht austricksen, Freundchen!« So deutete ich ihre Blicke. »Wo ist er denn nun, der kleine Inder?«, entnahm ich dem fragenden Gesicht meines Rippchens. Sie fand ihn kurz darauf gefesselt und geknebelt in der Abstellkammer. Nach einem Abstecher zur Shopping Mall flüsterte sie mir augenzwinkernd zu: »Mach dir keine Sorgen, Schatz. Bald sind wir ihn los.« Auffallend überschwänglich verteilte sie hübsch verpackte Geschenke an unsere Gäste. »Ihr dürft sie aber erst in Deutschland auspacken«, mahnte sie. »Besonders das Große.«

Skeptisch beäugten die Krafziks die Gaben. Frau Tülle führte das große Geschenk ans Ohr und schüttelte es kräftig. Mein Rippchen schnellte auf sie zu. »Um Gottes Willen! Der Inhalt ist äußerst zerbrechlich!« Jürgen stand lange wortlos da, schaute von einem zum anderen und immer wieder auf das Paket. Nach einer halben Ewigkeit sprach er schließlich: »Na ... also ... äh ... dann sage ich doch mal ... auch im Namen meiner Frau ... äh ... danke?«

Den Nachmittag verbrachten wir gemeinsam im Wohnzimmer. Jeder war in seine eigenen Gedanken vertieft. Während sich Jürgen und Frau Tülle wahrscheinlich die Köpfe zerbrachen, wie sie uns letztendlich doch noch überlisten konnten, hockte ich wie ein Wachhund auf der Couch und ließ unsere Freunde keine Sekunde aus den Augen. Gern wäre ich im Besitz von Indys Peitsche gewesen. Ich hätte sie bei der kleinsten verdächtigen Bewegung der Krafziks laut knallen lassen. Lediglich mein Rippchen war entspannt. Sie saß neben mir und stickte Weihnachtsmotive auf eine Tischdecke. Nach zwei endlos erscheinenden Stunden war es endlich soweit: Zeit zur Abreise.

Vor dem Flughafengebäude ereilte Frau Tülle ein Schwächeanfall. Leichenblass und mit zittrigen Beinen krabbelte sie aus unserem Auto. Ihr Atem ging stoßweise und rasselnd. Als sie auf die Knie sank und mir mit ersterbender Stimme bedeutete, einen Arzt aufzutreiben, nahm ich aus den Augenwinkeln eine blitzschnelle Bewegung wahr. Jürgen hatte das große Geschenk mit einem Fußtritt unter unser Auto befördert. Die beiden Schlitzohren konnten es nicht lassen. Kämpften bis zum letzten Augenblick! »Die Alte simuliert!«, raunte ich meinem Rippchen zu. Sie nickte ernst.

»Alle wieder einsteigen!«, befahl ich streng. »Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.« Dabei genoss ich Jürgens entsetzten Gesichtsausdruck. Frau Tülle warf ihm einen raschen Seitenblick zu. »Nicht nötig. Es geht wieder«, sprachen beide wie aus einem Mund. Ich heuchelte Erleichterung. »Ok, geht ihr schon mal vor. Ich parke nur schnell den Wagen.« Eher beiläufig zeigte ich unters Auto. »Und vergesst euer Geschenk nicht.« Zähneknirschend hob Jürgen das Paket auf.

An der Schlange zur Sicherheitskontrolle verabschiedeten wir uns von unseren Freunden. Das Ziel war fast erreicht. In weniger als 14 Stunden würde der kleine Inder Germanyland infiltrieren. Ich hatte fast Mitleid. Kurz bevor uns eine Schiebetür von den Krafziks trennte, drehte sich Frau Tülle noch einmal um, winkte uns zu und ließ das Paket demonstrativ in einen Mülleimer fallen. Entgeistert fasste ich mir mit beiden Händen an den Kopf. »Hast du das gesehen? Sie haben den kleinen Inder entsorgt!«

»Macht nichts. Es läuft alles nach Plan.«

»Wie meinst du das? Sobald er sich befreit hat, hängt er uns wieder auf der Pelle.«

»Das wage ich zu bezweifeln.«

Weil ich nun in meiner Aufgebrachtheit anfing, die Verankerungen meiner Haarwurzeln anzutesten, nahm mich mein Rippchen in den Arm und sagte beruhigend: »Habe ich dir nicht versprochen, dass du dir keine Sorgen machen brauchst?«

»Ja.«

»In dem Paket war nichts weiter als Katzenstreu.«

»Und der kleine Inder?«

»Der steckt im Gepäck der Krafziks. Im Kulturbeutel.«

Bewundernd sah ich sie an. »Ein genialer Streich!«

Tja, das kommt davon, wenn man sich mit den Meyns anlegt. In Sachen geschickte Täuschung sind wir zu gerissen für den Laien. Uns legt man nicht so einfach rein. Viele haben es versucht; alle sind sie gescheitert.

So sehr wir den Besuch aus Germanyland auch genossen hatten, freuten wir uns nun auf unser ruhiges Heim und vor allen Dingen auf unser Bett. Noch im Hausflur versprach mir mein Rippchen ein saftiges Steak zum Abendessen. Ungewohnte Geräusche ließen uns aufmerken. Alarmiert und mit größter Vorsicht betrat ich das Wohnzimmer. Am Esstisch saß der kleine Inder. Ihm gegenüber, fast identisch, ein weiteres Exemplar. Zwei kleine Inder, die sich aufgeregt in einer fremden Sprache unterhielten. Es hörte sich an, als würde jemand in der Mikrowelle Popcorn machen.

»Es ist nur ein Traum«, stammelte mein Rippchen schwach. »Kneif mich!«

Ich kniff ihren Oberarm und schlug mir gleichzeitig ins Gesicht.

»Kein Traum, Schnuckie. Die sitzen da wirklich.«

»Fester! Gleich wachen wir auf. Ganz bestimmt!«

Sie sollte Recht behalten. Wir erwachten – nach einer kurzen Ohnmacht – auf dem Wohnzimmerteppich. Zwei kleine Inder benutzten unsere Bäuche als Trampolin. Aus vollen Herzen lachend hielten sie sich an den Händen. Im Hintergrund hörten wir den Anrufbeantworter. Ein letzter Abschiedsgruß von Jürgen und Frau Tülle:

»Unser Flieger startet gleich. Wir wollten uns noch einmal für eure Gastfreundschaft bedanken. Und bitte nicht böse sein wegen dem kleinen Inder. Er ist doch eigentlich sehr pflegeleicht. Tschüss und bis nächstes Jahr!«

Lesen Sie die gesamte Reihe »Besuch aus Germanyland / Briefe vom kleinen Inder« von Michael Meyn und Elke Schröder:

  1. Michael Meyn: Die Ankunft
  2. Michael Meyn: Die Luft ist raus
  3. Michael Meyn: Klasse Wetter
  4. Michael Meyn: Grand Canyon
  5. Elke Schröder: Briefe vom kleinen Inder (1)
  6. Michael Meyn: Friss oder stirb!
  7. Michael Meyn: Explosionsgefahr beim Doppelkopf
  8. Elke Schröder: Briefe vom kleinen Inder (2)
  9. Michael Meyn: In der Stille der Nacht
  10. Elke Schröder: Briefe vom kleinen Inder (3)
  11. Michael Meyn: Da waren's nur noch zwei
  12. Elke Schröder: Briefe vom kleinen Inder (4)