Es ist schon wieder Thanksgiving Day in Amerika. Ein schlechter Tag für alle Truthähne in diesem Land. Das arme Geflügel hat eh schon nicht viel zu melden, doch einmal pro Jahr geht es ihm so richtig an die Federn. Keine Familie, die etwas auf sich hält, kommt ohne turkey aus. Es ist Pflicht.
Ein ganz besonderes Ritual ist das Zerbrechen des Wishbones, eines Knochens, der einer Astgabel oder einem ›Y‹ ähnlich sieht. Zwei Leute halten den Knochen oberhalb der Gabelung fest und ziehen, bis sie zerbricht. Derjenige mit dem größeren Stück ist der Sieger des Tages und darf sich etwas wünschen. Still und heimlich wie bei Sternschnuppen, versteht sich, denn sonst geht der Wunsch ja nicht in Erfüllung. Da es pro Truthahn nur einen Wishbone gibt, kann es bei größeren Familien schnell zu Streitereien kommen, was die Teilnahme am Knochenziehen betrifft.
Normalerweise sind mein Rippchen und ich Thanksgiving bei unserem Freund Mike. Meistens kommt auch seine Mutter aus La Jolla, einem kleinen Ort in Kalifornien, angereist; manchmal in Begleitung ihres zweiten Sohnes, Lucky. Dieses Jahr hat sich Mike allerdings dazu entschlossen, seine Mutter zu besuchen. Das ist ebenso merkwürdig wie schade, weil es schon so etwas wie Tradition ist, Turkey Day bei dem leidenschaftlichen Koch Mikey zu verbringen. Bei ihm ist es immer so gemütlich.
Letztes Jahr war es ganz besonders schön:
»Kann ich so gehen?«, fragte mein Rippchen, gefönt, geschminkt sowie feierlich gekleidet und drehte sich vor mir mehrmals um die eigene Achse.
»Ja, schon. Nur kommst du so nicht weit.«
»Ich meine optisch, du Knalltüte!«
»Du siehst zum Anbeißen aus.«
»Danke! Den ollen Lappen lässt du aber nicht an, oder?«
»Das ist mein Lieblingspullover. Seit vielen Jahren!«
»Mach, was du willst. Lass uns gehen. Mir ist schon schlecht vor Hunger.«
Auf der Autofahrt zu Mikes Haus wurde mein Rippchen plötzlich unruhig. »Meinst du, die haben schon ohne uns angefangen?«
»Das glaube ich nicht. Deshalb kommen wir doch diesmal eine Stunde früher als letztes Jahr. Ich lasse mir nicht noch einmal die ganze Truthahnbrust wegessen.«
»Stimmt, und Soße war auch keine mehr da. Ich musste mir den Kartoffelbrei trocken runterwürgen.«
»Naja, die hatten eben alle Hunger und konnten nicht länger auf uns warten. Aus Fehlern wird man klug.«
Am Ziel angekommen standen wir vor der Haustür. Mein Magen knurrte unangenehm laut.
»Brauchst nicht klingeln, geh einfach rein. Das ist hier in Amerika unter Freunden üblich.«
»Abgeschlossen.«
»Gut, dann musst du doch klingeln.«
»Ich glaube, die Klingel funktioniert nicht. Ich höre nichts.«
»Happy Thanksgiving!«, riefen wir wie aus einem Munde, nachdem wir durchs Schlafzimmerfenster eingestiegen waren und das Esszimmer gestürmt hatten. Dort saßen sie, die Lieben: Mama Keiko, die kleine reizende Japanerin, und ihre beiden Söhne, Mike und Lucky. Mike versteckte sich bei unserem Auftritt erschrocken hinter seiner Serviette. Lucky war mit einem langen Messer über einen knusprig braunen Truthahn gebeugt und erstarrte. Er sah dabei aus wie ein Kind, das man beim Griff in die Keksdose ertappt hatte. Keiko schrie etwas auf japanisch, was ich natürlich nicht verstand, doch ich glaubte, einen ähnlichen Ausruf schon einmal in einem Kriegsfilm von einem Kamikazeflieger kurz vorm Einschlag gehört zu haben. So waren unsere Freunde; taten ganz überrascht, als hätten sie uns nicht erwartet, die Schlingel.
»Please, don't get up, my friends«, sagte ich. Wir wollten keine großen Umstände machen. Wir machten unsere Begrüßungsrunde um den Tisch, klopften Lucky auf den verkrampften Rücken und gaben Keiko einen dicken Schmatzer auf die Wange. Unserem Gastgeber erklärten wir etwas verschämt, dass wir für den Nachtisch zwar eine leckere Weinschaumcreme vorbereitet hatten, ihr aber bereits zur Frühstückszeit nicht mehr hatten widerstehen können. Danach besorgte uns mein Rippchen zwei Teller und Besteck, während ich mich auf die Suche nach Weingläsern machte.
Bestens ausgerüstet begaben wir uns zu Tisch. Vor uns boten sich viele Köstlichkeiten dar. Mike reichte mir auffallend höflich die Schüssel mit dem Stuffing. Stuffing sind die zerkleinerten Innereien des Truthahns. Das Ganze wird irgendwie gebraten oder gebacken und dann wieder zurück in den hohlen Hahn gestopft. Ich kriege das Zeug nicht runter, und Mike weiß das auch.
»No, thanks.« Ich hatte meinen gierigen Blick schon längst auf den fetten Vogel gerichtet. Langsam kehrte wieder etwas Leben in Luckys Körper zurück. Er setzte den chirurgischen Eingriff mit dem langen Messer an der Truthahnbrust fort.
»YES! Turkey tits!«, bellte ich schmachtend. »On my plate, please!« Ich mag nur die Brust. Den Rest kann man von mir aus wegschmeißen.
Aus Fehlern klug geworden, sicherte sich mein Rippchen die Soßenschüssel. Sie bestellte selbstbewusst eine der beiden Keulen, schippte sich Unmengen Kartoffelbrei auf, verlangte nach den grünen Bohnen, griff nach allem, was auf dem Tisch stand und wischte sich zwischendurch immer wieder mit Mikes Serviette den Schweiß von der Stirn.
»Warum sind denn alle so ruhig?«, fragte sie mich nach dem zweiten Nachschlag leise.
»Kein Grund zu flüstern. Hier versteht keiner Deutsch.«
»Stimmt«, kicherte sie. »Wir sind klar im Vorteil. Aber jetzt mal ernsthaft. Von denen spricht überhaupt keiner.«
»Na, weil's so lecker ist. Da fehlen einem die Worte und man will nur noch schlemmen. Kipp mir mal etwas Soße über die Brust, bitte.«
»Keiko sieht so traurig aus.«
»Findest du?«
»Ja. Irgendwas bedrückt sie.«
»Weil sie ihren Namen hört und nicht weiß, was du über sie sagst.«
»Oh, das wäre mir jetzt gar nicht aufgefallen. Gut, dass du aufpasst.« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf Keiko. »Meinst du, die Frau da drüben hat schlechte Laune?«
»Nein.«
»Sicher?«
»Keiko hat nie schlechte Laune.«
»Jetzt hast du Keiko gesagt.«
»Fuck!«
»Ich wette mit dir, sie hat schlechte Laune.«
»Die?« Ich zeigte auf unser Gegenüber, welches schweigsam an einem Stück Brot mümmelte. »Nie im Leben! Niemand ist ausgeglichener als Keiko. Da kannst du Mike fragen. Oder Lucky!«
»Ist ja jetzt auch egal.«
Lucky friemelte an dem bizarr aussehenden Gerippe des Truthahns herum. Zum ersten Mal an jenem Abend öffnete er den Mund: »Well, I guess the only thing left to do is ...«
»... THE WISHBONE!« Mein Rippchen quietschte vor Freude und riss dem verdutzten Sohn einer möglicherweise schlecht gelaunten Asiatin den fettigen Knochen aus der Hand.
»Los, Schatz! Eins, zwei, DREI!« Gleichzeitig zogen wir. Sie gewann.
»Eine wahre Glückssträhne, Schnuckie! Das ist jetzt schon das dritte Jahr in Folge.« Stolz schloss sie die Augen und wünschte sich etwas.
Mir war nach einer Zigarette. Ich verdrückte mich für einen Augenblick auf die Terrasse. Nach einem gelungenem Festmahl schmeckt eine Zigarette einfach am besten!
Mein Rippchen hatte sich unterdessen auf der Couch lang gemacht. Sie schnarchte leise. Die Raucherpause beendet, machte ich es mir auf einem Sessel gemütlich, legte die Beine auf den Wohnzimmertisch und schlummerte alsbald friedlich ein. Was für ein schöner Abend!
Der Leser wird nun sicherlich verstehen, warum wir doch ziemlich enttäuscht sind, dass Mike uns dieses Jahr nicht mit seinen Kochkünsten beglücken will. Selbstverständlich respektieren wir seinen Wunsch, mit der Tradition zu brechen und den Feiertag bei seiner Mutter in Kalifornien zu genießen. Er soll sich ruhig mal richtig verwöhnen lassen. Keiko kann nämlich ebenfalls hervorragend kochen. Darum müssen wir uns jetzt auch beeilen. Bis La Jolla fährt man fünf Stunden.
Diese Kolumne finden Sie auch in Michael Meyns 2007 erschienenem Buch »Vegas, Schnuckie!«.
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