Wir standen in der Warteschlange zum Seafood Buffet im Hotel Rio. Sauteure Angelegenheit, und mein Rippchen hatte den tollen Einfall gehabt, unsere Freunde einzuladen. Um nicht als unsympathischer Geizhals dazustehen, stimmte ich der Idee zu, doch besonders wohl war mir bei dem Gedanken nicht. Buffets sind für Kampfesser. Hier wird die Spreu vom Weizen getrennt. Hier werden Helden geschaffen. Hier sterben Weicheier. Würden die Krafziks überleben?
Kurz vorm Erreichen der Kasse gab ich unserem Besuch noch ein paar nützliche Tipps: »Vorsicht bei den Pasta-Gerichten! Man will euch mit Billigfraß frühzeitig die Bäuche füllen. Visiert die teuren Sachen an, trinkt möglichst wenig und achtet auf eure Atmung. Wenn ihr zu verkrampft esst, seid ihr auch viel schneller satt.«
Ernstes Nicken. Ernste Gesichter um uns herum in der Schlange. Man hätte meinen können, wir stünden alsbald vor der Stürmung von Omaha Beach.
Ein Kellner führte uns an unseren Tisch. In einem gewöhnlichen Restaurant hätte man sich nun gemütlich hingesetzt und die Bestellung aufgegeben. In einem Buffet hingegen wird nur kurz die Umgebung gescannt, um sich einen gewissen Überblick zu verschaffen, ehe man sich ins Geschehen stürzt, damit man später nicht mit seinem Essen wie doof durch den Laden irrt. Ich habe schon Idioten gesehen, die am Anfang nicht aufgepasst hatten und ihr Essen stehend in einer Ecke verspeisen mussten. Man nennt solche Menschen Buffet-Bitches, oder auch Bubis, und es ist völlig legitim sie zu verspotten oder ihnen ein paar Häppchen vom Teller zu klauen.
»Ok, Ladies and Germans, bitte zuhören.« Der eindrucksvolleren Präsenz halber stellte ich mich auf Zehenspitzen. »Vor euch befinden sich die besten Meeresfrüchte, die Las Vegas zu bieten hat. Esst weise, esst viel, esst immer mit dem Hintergedanken, dass wir uns dies nicht wirklich leisten können. Lasst uns das System schlagen! Gott segne euch!«
Wir stoben auseinander. Zielstrebig steuerte ich auf die Shrimps zu. Jürgen stieß mich rüde zur Seite, wodurch ich beinahe auf dem Tisch einer asiatischen Großfamilie gelandet wäre. Hämisch lachend erreichte er die Shrimps vor mir, bekam jedoch von einem recht großen Basketballspieler den eigenen Arsch gereicht und musste am Eingang noch einmal neu starten. Den schwarzen Riesen schaffte ich mir aus dem Weg, indem ich ihm steckte, Jürgen hätte ihn soeben Schoko-Bubi genannt.
Seit Jahren versuche ich nun schon mein Rippchen zu überreden, eine Auster zu probieren. So auch hier: »Nun komm schon! Du musst nur schnell schlucken. Denk an grüne Wiesen und Mainzelmännchen.«
Sie weigerte sich, wie immer: »Eher würde ich mir den Mund zunähen lassen!«
Ich mag die glitschigen Dinger ja eigentlich auch nicht, aber mit viel Zitrone oder Cocktailsoße kriege ich sie ohne zu würgen runter, und darauf bin ich stolz. Wann immer wir ein Buffet besuchen, lege ich mir stets zwei bis drei Austern auf den Teller, nur um der Welt zu beweisen, dass ich auch auf Partys der gehobenen Klasse gesellschaftsfähig wäre.
Kopfschüttelnd schenkten wir unsere Aufmerksamkeit Frau Tülle, die sich mit Messer und Gabel über ein Stück Hühnchen hermachte. Sie spürte unsere Blicke.
»Was denn?«
»Hühnchen im Seafood Buffet?!?«
»Wieso nicht?«
Mein Rippchen wurde zickig: «Da hätten wir auch zu Kentucky Fried Chicken fahren können.«
»Genau!«, warf ich unterstützend ein. «Und außerdem dauert es ewig, bis du mit deinem Besteck das Fleisch von den Knochen gepflückt hast. Iss wenigstens mit den Händen. Das rechnet sich sonst nicht. Wir haben das doch eben alles ausführlich besprochen.«
»Ich kann ja wohl essen, was und wie ich will!« Und damit wir auch bloß verstanden, wie ernst es ihr damit war, besorgte sie sich einen großen Teller mit Melonenstücken, die sie – obwohl bereits mundgerecht zugeschnitten – nochmals in zwei Hälften teilte; obendrein noch ziemlich träge.
»Darf Besuch das?«, fragte mich mein Rippchen. Ich hatte nur ein schwaches Schulterzucken zur Antwort. Im Kopf überschlug ich kurz, wieviele Austern ich zusätzlich essen musste, um den Melonenstunt preislich wieder auszugleichen. Jürgen war die Angelegenheit sichtlich peinlich: «Ich mach's auf meiner Seite wieder gut, Micha.«
Sein Versprechen als verbalen und somit verbindlichen Vertrag einstufend, beugte ich mich zufrieden über meine Shrimps. Deliziös! Vor mir hatte ich ein halbes Dutzend kleine Soßenschälchen aufgestellt, in die ich die geschmacklosen Krabben tunkte. Bubba aus Forrest Gump hätte seine wahre Freude an mir gehabt.
Ein altes Mütterchen im elektrischen Rollstuhl krachte mit quietschenden Reifen in meine rechte Niere.
»That looks tasty!« Anstatt ihren Zeigefinger zu benutzen, schob sie den Joystick des Rollstuhls in Richtung meines Tellers und quetschte mich zwischen Stuhl und Tisch ein.
»What is it?«
»These are shrimp«, antwortete ich höflich.
»I see. What kind of shrimp?«
Woher sollte ich das wissen? Jürgen eilte zur Rettung:
»Wurdemanns Putzergarnele, gnä' Frau.«
»Hm?«
»Forgive you me, but I don't know the English Übersetzung im Moment.«
»Interesting. And what's that?«
»That is a little guy from India. Do you want it?«
»Thanks, I'll get my own.«, sprach's und quietschte von dannen.
Wir machten gute Fortschritte. Mein Rippchen setzte all ihre Konzentration in die Zerlegung überlanger Krebsbeine. Krebsfleisch war für sie das Paradies auf Erden. Beim Zerbrechen der harten, stacheligen Schalen hatte sie sich die Finger blutig gerissen. Doch sie war hart im Nehmen. Jürgen hielt sich tapfer an unseren Vertrag; nach jedem Gang zum Buffet kehrte er mit mindestens zwei Tellern zurück. Lange würde er nicht mehr durchhalten, dachte ich. Man konnte ihm ansehen, dass er bereits stopfte. Ich selbst hatte dem Besitzer des Buffets locker eineinhalb Kilo Shrimps, unzählige Stücke rohen Lachs aus der Sushiabteilung sowie diverse andere Leckereien abgeluchst. An mir hatte er jedenfalls nichts verdient!
Nur Frau Tülle spielte weiterhin die Außenseiterin. Bockig arbeitete sie an einem billigen Stück Sahnetorte und sang «I ate it my way«, alldieweil sich Jürgen hinter seiner Serviette diskret in den zugepressten Mund erbrach. Besorgt hielt ich ihm die Nase zu.
»Soll ich einen Arzt rufen?«
»Es geht schon. Aber das war knapp! Vielleicht sollte ich eine Pause einlegen?«
»Großer Fehler! Sobald das Sättigungsgefühl einsetzt, ist der Spaß vorbei. Dann geht nix mehr rein.«
»Wenn dem so ist, muss ich leider sagen: Der Spaß ist vorbei. Es geht nix mehr rein.«
Er beriet sich leise mit der größten Verräterin aller Zeiten und fragte anschließend:
»Macht es euch etwas aus, wenn wir schon mal zum Auto gehen? Wir brauchen dringend frische Luft.«
Bedächtig legte ich mein Besteck nieder. Im Tonfall von Don Corleone antwortete ich:
»Gewiss, mein Freund. Du hast dein Bestes gegeben. Ruh' dich aus.«
Von seiner Frau gestützt, verließ Jürgen die Räumlichkeiten.
»Die stinken, die Krafziks!« Mein Rippchen war wütend.
»Tja, was soll man dazu sagen? Wir müssen der Realität ins Auge sehen. Unsere Freunde sind halt undankbar.«
»Mund auf, Schatz!« Sie hielt mir ein blutiges Stück Krebsfleisch unter die Nase.
»Danke, Schnuckie.«
Lesen Sie die gesamte Reihe »Besuch aus Germanyland / Briefe vom kleinen Inder« von Michael Meyn und Elke Schröder: