30.12.06

Michael Meyn

Makelloser Körper

[english] This column's translation: »Flawless Body«

Heute beim Abendessen warf mein Rippchen in einer Unterhaltung völlig unsensibel ein: »Deine Beine sind zu kurz.«
Ich bekam gar nicht schnell genug die Gabel aus dem Mund. »Wie bitte?«
»Deine Beine sind zu kurz.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich habe Augen im Kopf. Das war mir schon aufgefallen, als ich dich das erste Mal gesehen habe.«
»Ach ja? Als ich mich das erste Mal gesehen habe, fiel mir das aber nicht ins Auge.«
»Das wundert mich nicht. Dir würde es auch nicht auffallen, wenn dir eine zweite Nase wüchse.«
»Mag sein, aber wieso sprichst du das ausgerechnet jetzt an?«
»Weiß nicht. Es passte irgendwie zum Thema.«
»Wir sprachen über Spaghetti!«
»Eben. Und darum kam ich darauf.«
Ich hätte vermutlich etwas forscher nachfragen sollen, doch der Schock saß einfach zu tief in meinen Knochen. Ich habe zu kurze Beine? Das sagt man mir erst jetzt, nachdem ich 36 Jahre lang durch die Weltgeschichte gestelzt bin, als hätte ich etwas richtig Verführerisches zu präsentieren! Ich fand meine Beine eigentlich immer sehr sexy.

Offen gestanden fallen mir viele Dinge an mir erst auf, wenn man mich darauf hinweist. Im Schwimmunterricht in der Schule ist mal eine Mitschülerin fast abgesoffen, weil sie Haare auf meinen Zehen entdeckt hatte, als ich am Beckenrand stand. Ein anderes Mädel deutete auf dem Schulhof mit beiden Zeigefingern auf mich und schrie: »Der Meyn hat Haare auf der Nase! Das müsst ihr euch ansehen!« Man versammelte sich um mich und begutachtete meinen Stoppelzinken. Gleich nach der Schule rannte ich nach Hause, um mir meine Nase im Spiegel zu betrachten. Tatsächlich. Kleine Härchen, überall! Das sah sehr bescheuert aus. Aber warum war mir das bis dahin noch nie aufgefallen? Schaut man als junger Hüpfer nicht andauernd in den Spiegel, weil man sich so umwerfend hübsch findet? War ich da etwa von der eigenen Schönheit geblendet worden?
Dank Papas Rasierer entledigte ich mich der lästigen Behaarung. Nach einem kurzen Rundumcheck fühlte ich mich wie ein neuer Mensch. Mit großem Selbstbewusstsein – und viel zu kurzen Beinen, wie ich seit heute weiß – betrat ich am nächsten Tag das Klassenzimmer, setzte mich an meinen Platz und blickte erschrocken in das Gesicht meines Nachbarn, welcher für meinen Geschmack etwas zu laut rief: »Der Meyn hat Haare auf den Ohren! Ey, der Meyn hat Haare auf den Ohren! Ey!!!«

Ja, über meine Körperbehaarung könnte ich ganze Aufsätze schreiben. Zum Beipiel wies mich eine Freundin darauf hin, dass jeder Mensch zwei Augenbrauen hätte, nicht bloß eine. Ich nickte zustimmend, wusste aber nicht so recht, worauf sie hinaus wollte. Sie bot mir dann an, aus meiner überaus langen und buschigen Augenbraue zwei anschaulichere kurze Brauen zu machen. Peinlich berührt nickte ich wieder zustimmend.

An meinem Körper gibt es aber auch eine kleine Stelle, die nicht behaart ist; direkt unter meinem Kinn. Aus irgendeinem Grund will mein Bart dort nicht richtig wachsen. Ich beobachte diesen kahlen Fleck nun schon seit vielen Jahren, und ich habe festgestellt, dass dort mittlerweile ein leichtes Wachstum zu verzeichnen ist. In zehn bis fünfzehn Jahren wird die Lücke wahrscheinlich geschlossen sein.

Apropos Kinn. Meins ist schief. Das weiß ich seit meinem Zivildienst. Meine Vorgesetzte machte mich darauf aufmerksam, und zwar mit einem höhnischen Grinsen im Gesicht, weil sie mich auf den Tod nicht ausstehen konnte. Sie glaubte wohl mich damit verunsichern zu können. Seither streiche ich mir immer (scheinbar) gedankenverloren mit einer Hand übers Kinn.

»Viel zu kurz?« fragte ich ängstlich nach.
»Was?« Offensichtlich war mein Rippchen nach der erfolgreichen Zerstörung einer Existenz bereits bei der Planung der nächsten.
»Meine Beine. Sind sie viel zu kurz oder nur ein bisschen?«
»Geht so.«
»Was heißt geht so? Wieviele Zentimeter fehlen mir?«
»Also zehn sind's bestimmt.«
Oh Gott! Zehn Zentimeter! Demnach müsste ich mindestens 1,94m groß sein, um ganzheitlich ein vernünftiges Bild abzugeben. Wie soll ich das kompensieren? Ich könnte von nun an immer mein unbehaartes Kinn auf den ebenfalls unbehaarten Brustkorb legen und die Schultern ein wenig hängen lassen. Oder ich stelle mich in leicht gebeugter Haltung hin. Gibt es Schuhe mit 10cm hohen Einlagen? Aber das würde ja nicht verhindern, dass meine Beine zu kurz sind. Eher würde man sich darüber lustig machen, dass meine Füße zu hoch sind. Wirken rasierte Beine länger oder kürzer oder macht das keinen Unterschied? Darf ich es mir überhaupt noch erlauben kurze Hosen zu tragen?
»Vielleicht ist das auch nur eine optische Täuschung, weil mein Oberkörper zu lang ist?«
»Ja, dein Oberkörper ist zu lang.«
»Na also! Moment ... was soll das jetzt heißen?«
»Durch deinen langen Oberkörper wirken deine Beine zu kurz.«
»Was denn nun, sind meine Beine zu kurz oder ist mein Oberkörper zu lang?« Sollte das etwa bedeuten, dass ich eigentlich nur 1,74m groß sein dürfte?
»Keine Ahnung. Ist doch egal.«
»Ist es eben nicht. Was sage ich denn den Leuten, wenn sie mir vorwerfen, meine Beine seien zu kurz? Ja, du hast recht oder nein, mein Oberkörper ist zu lang?«
»Es kommt aufs Gleiche raus.«
»Irrtum! Ich muss doch mit guten Gegenargumenten kontern können.«
»Es gibt kein Gegenargument für zu kurze Beine.«
»Doch. Ein zu langer Oberkörper!«
»Wenn du dich dabei besser fühlst ... Soll ich morgen Spaghetti kochen?«
»Nein!«
»Bandnudeln mit Baby-Shrimps?«
»Auf gar keinen Fall!«

Diese Kolumne finden Sie auch in Michael Meyns 2007 erschienenem Buch »Vegas, Schnuckie!«.

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