02.02.16

Manfred Prescher

Miststück der Woche IV/53 – David Bowie: »Lazarus« – Teil 3

David Bowie

David Bowie im Video zu »Lazarus«

Foto: Sony Music

Mit der Vergangenheit hat Bowie eigentlich immer in dem Moment abgeschlossen, als sie von der Gegenwart überholt wurde. Das Gestern war für ihn heute schon weit weg, findet Manfred Prescher – und nähert sich seinem Lieblingskünstler trotzdem aus der Rückansicht. Wenn man mal davon absieht, dass Bowie vor seinem Tod noch richtig fleißig war und uns dementsprechend noch einige Werke bevorstehen, wie Produzent Tony Visconti nicht müßig wird, zu betonen, dann ist das auch der einzige Weg, sich einem zu nähern, der nie greifbar war – und es gerade jetzt auch nicht werden wird.

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf – und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, dass du nur noch die Welt retten musst oder dass Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Sonderversion der Kolumne geht es dieses Mal um einen Künstler, der tatsächlich ewig und drei Tage Lieder veröffentlichte, die sich in dir festsetzen.

Wie war das seinerzeit mit diesem Lazarus? Eigentlich sind in der Bibel zwei Gestalten mit diesem Namen verbrieft, aber hier soll es um Lazarus von Bethanien gehen. Der wurde, so wird kolportiert, von Jesus aus dem Reich der Toten zurückgeholt, was bis heute zu allerlei Mutmaßungen Anlass gibt. Ich habe vor Jahr und Tag übrigens mal ein Miststück über Nick Caves »Dig, Lazarus, Dig!!!« geschrieben, der Australier, sowieso ein ausgewiesener Kenner des Buches der Bücher, hat das Gleichnis in die Jetztzeit versetzt, was natürlich nichts mit dieser Kolumne hier zu tun hat, wenn man davon absieht, dass David Bowies »Lazarus« ebenfalls im Heute spielt. Und das nicht nur, weil die Single aus dem Album »Blackstar« integraler Bestandteil des nicht ganz zu Unrecht auch »Lazarus« betitelten Off-Broadway-Musicals ist. Der Unterschied zu Herrn von Bethanien ist aber der, dass Bowie 2016 nicht auf Jesus zu hoffen braucht, er erweckt sich einfach selber zu einem recht munteren Leben, das ihn erstmals auf Platz 1 in den amerikanischen we deutschen Albumcharts führt. Das ist entweder geschicktes Marketing, eine letzte, perfekte Inszenierung oder reiner Zufall. Die Sache mit der Krankheit, dem Geburtstag, der Veröffentlichung der CD und dem passgenauen Ableben, meine ich jetzt.

Da Bowie nie für Zufälligkeiten, wohl aber für Auffälligkeiten stand, gehe ich davon aus, dass es tatsächlich ein Mix aus PR-Strategie und Grande Finale ist, den er uns vom Sterbebett aus volley servierte. Ich will hier garantiert keine Verschwörungstheorien in die Welt setzen, es langt ja schon, dass Elvis oder Hitler angeblich heute noch leben. Bowie ist mausetot, und außerdem sowieso schon wieder woanders. Es ist also eigentlich wie immer. Während wir noch trauern und erkennen, dass »Lazarus« samt dem dazugehörigen Album eine intensive Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Sterben ist, macht Bowie sicher schon irgendwo irgendwas komplett entgegengesetztes, vielleicht vertont er Allfools-Day-Scherze aus dem 19. Jahrhundert oder schreibt eine Oper über die zarten Seiten von Iggy Pop. Ich, als sein gelehriger Schüler, ich als jemand, der ihn immer schon mit dem unsterblichen Voland aus Michail Bulgakows Schelmenstreich »Der Meister und Margarita« gleichsetzte, werde zwangsläufig auf Zeichen achten. Wie immer halt.

Ich denke zum Beispiel an das Jahr 2001. Damals hieß es, eine neue CD von Bowie sei im Anflug. Erschienen ist die Platte offiziell dann nie, er hat sie im Vorwärtsdrängen einfach vergessen, vermute ich. »Toy« sollte sie heißen – und ja, ich musste sie unbedingt haben. Dass sie zehn Jahre später über das Internet feilgeboten werden sollte, wusste ich nicht. Es hätte mich freilich auch nicht vom überteuerten Kauf eines Bootlegs abgehalten. Gelohnt hat sich der Aufwand, die Suche, das Plündern des Kontos, denn »Toy« ist besser als einige Platten, die Bowie zuvor ganz legal auf den Markt hat werfen lassen.

Cover: Toy

Vor knapp 15 Jahren wollte ich gern das Spielzeug sein. Für wen? Das war die entscheidende Frage. Die Realität sah nach Alltag, häuslich-moderatem, sich gegenseitig in Schubladen stecken aus. Dabei hätte ein wenig mehr Verspieltheit doch einiges retten können, aber man war in einem Korsett gefangen, das die wachsende Plautze nicht wirklich im Zaum hielt. Stattdessen wurde ich als Spielzeug unbrauchbar, weil unhandlich, rundlich und zu bequem. Es schien so, als habe keiner von uns die Herzenslektionen gelernt, von denen Bowie in »Hearts Filthy Lesson« rund sechs Jahre vor »Toy« sang. Über die Art des Zusammenlebens entschieden zu der Zeit nicht zwei Liebende, sondern vermeintliche Sachzwänge. Damals war Bowie wohl doch weiter von mir weg als ich seinerzeit annahm, denn – im Gegensatz zu mir – verweigerte der sich in den 1990er und 2000er Jahren konsequent allem, was von der Außenwelt an ihn herangetragen wurde. Erwartungen wurden einfach nicht erfüllt und basta. Damit entfaltete er sich prächtig und hätte mit »Toy« einen eben doch zu deutlich erwartbaren Erfolg einheimsen können. Pustekuchen. David Bowie ist schließlich nicht Michael Jackson, der den Fluch von »Thriller« nie abschütteln konnte. Mit »Let’s Dance«, freilich ein ganz anderes Kaliber, als Jackos Monumentalwerk, klappte der Verdrängungsprozess recht gut. Allerdings gab es, so um 1990 herum, eine Phase, da wusste auch Bowie nicht weiter. Das Video zu »Jump They Say«, der ersten Single aus dem 1993er, wie »Let’s Dance« wieder von Nile »Chic« Rodgers produzierten Album »Black Tie White Noise«, macht es deutlich: Bowie steht hoch oben, an einem Scheideweg, der einen sehr fragilen Grat zwischen Weiterleben bzw. Weitermachen und »in-den-Abgrund-springen« darstellt. Sie, die Mitmenschen, mögen »Spring doch« schreien, aber man muss ihnen nicht folgen. Das kennt man ja aus Kindheit, wenn Mutter fragt, warum man sich dazu hinreißen hat lassen, zum Beispiel bei einer Mutprobe vom Garagendach zu springen. Weil die anderen gesagt haben, man sei ein Feigling oder eine Memme, war dann die unweigerliche Antwort. Mutter setzte noch eines drauf, denn sie meinte abschließend, dass man sich doch auch nicht umbringen würde, wenn andere das verlangen. Warum eigentlich nicht, wenn genug Gruppendruck da ist? Das mit der Garage hätte doch tatsächlich schlimm ausgehen können. Aber eigentlich waren die Eltern genau die Leute, denen man individuelles Handeln nicht abkaufte. Die fuhren kollektiv nach Malle, gingen in den Swingerclub, wählten CSU/CDU und plapperten alles nach, was ihnen Axel Cäsar vorsagte. Selbständiges Entscheiden sieht anders aus. Womit wir wieder bei »Toy« wären. Bowie wusste sehr genau, dass es Menschen wie mich gibt, die sich dafür entscheiden, meilenweit für diese Platte zu gehen, das ist dann aber deren Entscheidung.

Der Song, der aus dem Album am dauerhaftesten hängengeblieben ist, ist »Let Me Sleep Beside You«. Das liegt natürlich nicht nur an der wunderbar eingängigen Melodie, die leicht auch auf »Young America« gepasst hätte, sondern speziell daran, dass es genau darum immer wieder geht – um Nähe zu finden, einen anderen Menschen »hautnah« zu spüren. Das schafft Geborgenheit und hin und wieder auch Lust. Menschen, die sowas geben können, werden »beste Liebespartner«, Menschen, die so ein Bedürfnis, frei und ohne Druck auszuüben, äußern können, werden reich beschenkt, denn ihrer ist regelmäßig das Himmelreich. Und Bowie? Er war, ist und bleibt ein wunderbarer Ratgeber, ein Wegweiser. Deshalb gibt es zum Abschluss der dreiteiligen Reihe hier meine aktuelle Album-Top-12:

  1. Scary Monsters (And Super Creeps)
  2. Station To Station
  3. Blackstar
  4. Young Americans
  5. Diamond Dogs
  6. 1. Outside
  7. The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars
  8. Toy
  9. Black Tie White Noise
  10. Hunky Dory
  11. Low
  12. Aladdin Sane
Cover: Blackstar