Die Kardinalsfrage zuerst: Hätte Manfred Prescher über dieses Lied geschrieben, wenn es sich nicht um einen Leserwunsch handeln würde? Oder wäre er lieber tatenlos durch den Tag mäandert? Letzteres auf jeden Fall, schließlich formulierte schon Karl Marx' Schwiegersohn Old Shatterhand bzw. Paul Lafargue im Jahr 1883 des Herrn, dass wir alle ein »Recht auf Faulheit« haben.
Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf – und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, dass du nur noch die Welt retten musst oder dass Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?
In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.
Wir haben ein Recht auf Faulheit. Also, liebe Leser, lasst doch mal alle Fünfe grade und den Herrgott einen guten Mann oder sonst was sein. Natürlich erstreckt sich dieses Grundgesetz, das von Lafargue schon zur Zeit von Fred und Barney bzw. von Carl und Mercedes Benz trefflich ausformuliert wurde, auch auf die geistige Faulheit. Man sollte es aber mit dem Faulenzen nicht allzu sehr übertreiben, sonst setzt man Walross-artig Speck an und bzw. oder wird geistig so träge, dass man sich prima fremdsteuern lässt. Oder, wie bei Dieter Thomas »Rex Guildo war dreimal dabei, bitte nicht wiederwählen« und der von Truck Branss in Szene gesetzten »ZDF Hitparade« zu ziemlich peinlichem Geklatsche hin dirigieren.
Foto: Universal Music
Dass dieses erstaunliche Phänomen des »Humptahumptadschingderassabumms« ein sehr typisches Deutsches ist, welches sich nicht im Schlager und seiner Volksempfänger-Version – alias »Musikantenstadl« und »ZDF Fernsehgarten« – wiederfinden lässt, sondern speziell auch bei Rammstein, macht die spezifisch deutsche Popmusik nicht wirklich schlechter. Von Freddy und Margot Eskens über Roy Black und Heino bis zu Beatrice Egli und Helene Fischer zeigt der Schlager natürlich immer auch, welches Geisteskind unsere Gesellschaft mehrheitlich ist. Das heißt aber generell nicht, dass die Texte hierzulande doofer sind als im angloamerikanischen Raum, wir verstehen die Engländer und Amerikaner halt in der Regel nur nicht so gut. Sicher, es gibt zum Beispiel Dylan oder Pete Doherty – aber mal ehrlich: Was ist an »She loves you, yeah, yeah, yeah« intelligenter als meinetwegen an »Fiesta, fiesta, ist noch Rest da/
Von dem Suppeneintopf zu Einermarkzehn«? Oder wie es ist mit »Umbrella-ella-ella«? Eben. Und: Intelligente, deutschsprachige Musik gibt es natürlich auch. Wenn man das ganze Schlagerthema aber mal mit einer Art Küchentisch-Musiksoziologie überziehen will, dann kommt man schon zum Ergebnis, dass Pop immer und überall so reaktionär ist, wie die Gesellschaft aus deren Mitte sie sich in die Charts erheben.
Aber dieses Parkett möchte ich jetzt doch verlassen, denn über die Hitwerdung von »Atemlos durch die Nacht«, dessen 460 Wochen in den deutschen Top Ten und das Phänomen Helene Fischer ist ja praktisch schon alles gesagt worden. Genau, wie über die Albumcharts, die in jüngster Zeit erkennbar häufig von deutschen »Produkten« dominiert werden. Man muss allerdings konstatieren, dass es dazu nicht besonders vieler Verkäufe bedarf, sonst würden auch nicht kurz mal Motörhead oder Iron Maiden vorne landen. Aber bei Helene verhält es sich anders: Die im russischen Krasnojarsk als Jelena Petrowna Fischer geborene Sängerin verkauft tatsächlich physische Tonträger und Downloads in solcher Hülle und Fülle, dass selbst das sprichwörtliche geschnittene Brot eher wie ein Ladenhüter wirkt. Frau Fischer ist nämlich das nicht untalentierte deutsche Sauberfrau-Äquivalent zu Shania Twain – der kleinste gemeinsame Nenner, auf dem sich der Fred im »Jupiter« mit Rudi Ratlos, Claudias Schäferhund und dem Ehepaar aus der Zweiraumwohnung einigen können. Der Kompromiss hätte freilich auch schlimmer ausfallen können. Denn unsre Nachbarn im Kotelett-förmigen Alpenstaat haben den Andreas Gabalier, der hoffentlich demnächst von Hubert von Goisern, dem Nino aus Wien oder Wanda in Grund und Boden gespielt wird.
Helene Fischer
Foto: Universal Music
Natürlich hat der Erfolg speziell von »Atemlos durch die Nacht«, ähnlich etwa dem wesensverwandten »Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle« von Wolfgang »Holzwolle« Petry oder auch mit »'54, '74, '90 ...« von den ziemlich netten Sportfreunden auch was mit dem Alkoholpegel zu tun. Diese Songs passen ins Bierzelt, spätestens nach der dritten Maß hat man dann Spaß, der Ohrwurm krallt sich fest. Auch auf den Ü-Dingenskirchen-Partys zwischen der Hallig Leer und St. Öd im Jammertal macht der Song eine gute Figur, harmoniert sogar eher mit der wachsenden Promillezahl als Petrys Mitklatsch-Schmonzette von der vorbeigegangenen Liebe. Oder, um es mit Kapitän Haddock aus »Tim und Struppi« zu sagen: »Hunderttausend heulende und jaulende Höllenhunde« noch mal, der Hit von Helene Fischer, der übrigens als zweites Stück nach – nicht nach »Feuer frei«, das stammt von den anderen – sondern nach »Fehlerfrei« aus dem Megaerfolgsalbum »Farbenspiel« ausgekoppelt wurde, passt perfekt ins letzte Viertel der Partynacht. Wenn keiner mehr auf die Beats und abgefahrene Sounds, wenigstens aber auf bewährte Oldies von den Simple Minds, Madonna oder Snap! abfährt, dann schlägt die Stunde für Helene. Weil man sich dann auch mit »Biene Maja«, einer »Insel mit zwei Bergen« oder den Schlümpfen zufriedengeben würde. Oder alles zusammen vom DJ ins vernebelte Hirn gebaliert bekommt. Schließlich kann ja jeder Discofox tanzen, wenn er nur genügend »Schnapsbierkornundwein« (Die Toten Hosen) intus hat – »Atemlos« ist übrigens ein fast lupenreiner Discofox. Das dicke Ende kommt am Tag darauf, denn dann will man wieder mal von nichts gewusst haben.
Nichtwissen schützt aber nicht vor Strafe. Wie es aussieht, muss die Autorin von »Atemlos durch die Nacht« noch mal kräftig blechen, meines Wissens nach – ich mag mich da aber durchaus auch täuschen – ist der Plagiatsvorwurf gegen Kristina Bach noch nicht vom Tisch. Wie dem auch sei. Jeder von Euch kann sich selbst ein Urteil bilden, in dem er einfach auf die Tube drückt und dort nach Rosanne Cash und »Land Of Dreams« sucht. Deren Text ist nur geringfügig besser, denn er beschreibt in ordentlicher »This land is your land«-Mentalität die Klischees, die einen als Urlauber eben nicht nach St. Elsewhere auf den Domestiken-Inseln, sondern in die USA treiben soll. Die Ähnlichkeiten sind wahrlich verblüffend und im Interview sagte mir Johnny Cashs Tochter, dass der Song tatsächlich für eine offizielle Tourismuskampagne entstand und dass ihr der Rummel um »Atemlos« links und rechts vorbei ginge. Darum kümmern sich nämlich Anwälte, Plattenfirmen und Medienmenschen. Den Fans ist das alles egal, erst recht um halb vier in der Früh, wo man nach Helene Fischer gern noch »Marmor, Stein und Eisen bricht« oder »How Much Is The Fish« hören möchte. Bevor man dann tonnenschwer ins persönliche »Land Of Dreams« wankt. Wie heißt es so schön? »Der Tag kommt, Johnny Walker geht«. In diesem Sinne wünsche ich Euch eine wundervolle Woche.
Eine Frage, die ich mir gerade beruflich immer wieder stelle, und die grad passt, ist die: »Bin ich eigentlich Jesus?« Die Antwort ist natürlich »nein«, denn sonst würde ich mich ja mit Euch da draußen auf aramäisch oder in einem seltsamen Seitendialekt des Aramäischen unterhalten – und später nicht »Atemlos durch die Nacht« wandern. Das hätte sogar was. Nächste Woche geht es hier übrigens um einen veritablen Klassiker, und zwar um The Verve und ihre »Bittersweet Symphony«. Bis dahin, übertreibt es nicht mit der Arbeit, seid nicht zu faul und bleibt vor allem geistig rege. Das schützt zumindest tagsüber vor Helene Fischer.