12.10.15

Manfred Prescher

Miststück der Woche IV/45 – The Verve: »Bitter Sweet Symphony«

The Verve: Urban Hymns

Foto: Universal Music

Sommerhits müssen nicht immer fröhlich sein – dieser stammt aus dem Jahre 1997 und ist eigentlich so gestrickt, dass er sich spielend auch als Herbsthymne eignet. Das findet zumindest Manfred Prescher, der den Leserwunsch dieses Mal besonders gern erfüllt.


Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf – und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, dass du nur noch die Welt retten musst oder dass Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.


Die Frage hat nun doch einige Leser dieser Kolumne beschäftigt: Hat sich Helene Fischer bzw. hat sich deren Autorin an einem Song von Rosanne Cash vergriffen? Eigentlich ist es ja auch völlig egal, weil geistiges Eigentum noch nie vor mehr oder minder »freundlicher Übernahme« sicher war. Man denke zum Beispiel an den »Junker's Blues« aus den 1920er Jahren. Von dem wusste schon drei Jahrzehnte keiner mehr, aus wessen geistigen Tiefen sich der Song an die Oberfläche drängte. Aber es entstanden gleich zwei Varianten im selben Studio, eine hieß »The Fat Man« und wurde von Antoine »Fats« Domino aufgenommen, die andere, »Lawdy Miss Clawdy«, war ein Hit für Lloyd Price. Beide sind unterschiedlich genug, um – jedes für sich – zum Hit zu werden. Und spätestens seit den wilden Sample-Orgien der Rap- und House-Szene der 1990er wurde der oft durchaus kreative Diebstahl genauso gebräuchlich wie das illegale Herunterladen von Kulturgut.

Auch The Verve fanden immer wieder mehr oder minder filigrane Musikfetzen, die zu Elementarteilchen ihrer Songs wurden. Dass etwa »Blue« klingt, als sei es tatsächlich von Oasis geschrieben, ist nachvollziehbar, die Gallaghers standen halt auch für ein funktionierendes Rollenmodell, das man meinetwegen »clevere Rüpel aus der englischen Ranz-Siedlung« nennen kann. Ja, und Verve-Sänger Richard Ashcroft steht den Brüdern Noel und Liam in puncto verbaler und körperlicher Schlagkraft in nichts nach. Da fällt mir ein, dass man zumindest in arabischen Oasen ein Gesetz gepflegt hat, das den Fortbestand der Kultur bedeuten konnte: In diesen Paradiesen waren Waffen verboten, Kampfhandlungen folglich stets eingestellt. Es herrschte Frieden am Wasserloch, auch, wenn ringsherum die wilde Wutz die Reihen lichtete. Aber England ist nicht die Sahara, aber im Mekka des Rock geht es halt seit jeher rauer zu als in einem karavanenüblichen Wadi.

Doch bei all der Rüpelei, mit denen man sich werbewirksam in die Boulevardblätter katapultierte und die Fans auf sich einschwor, indem man – wie Oasis und Blur – die Konkurrenz zu Feinden hochstilisierte, kamen eben doch wunderbare Songs heraus. Speziell The Verve hatten mit »Urban Hymns« einen der Britpop-Meilensteine schlechthin zustande gebracht. Das Album steht erdgeschichtlich sicher auf einer Stufe mit »(What's The Story) Morning Glory?« oder »Definitely Maybe« von Oasis bzw. »Parklife« von Blur. Fünf Singles – wenn man die rare und daher gesuchte Promoplatte »Rolling People« mitrechnet – wurden unter das Volk gestreut. Neben »Bitter Sweet Symphony« auch noch die großartigen Hymnen »Lucky Man«; »Sonnet« und »The Drugs Don't Work«. Mit chemischen Substanzen kennt sich Ashcroft auf jeden Fall aus, aufgrund einer bipolaren Störung nahm und nimmt er das Medikament Prozac. Aber zurück zur Musik: Der Sänger und Songwriter von The Verve wurde übrigens sogar von Oasis über den grünen Klee gelobt: »Cast No Shadow« sei, so verlautbarte Noel Gallagher, dem Genie Richard Ashcrofts gewidmet.

The Verve

The Verve

Foto: Universal Music

Am Anfang standen aber zwei Dinge – Funk bzw. Soul und die Rolling Stones. The Verve stammen bekanntermaßen aus Wigan, einer Industriestadt, die westlich von Manchester liegt. Dort befand sich mit dem legendären »Wigan Casino« der vermutlich europaweit wichtigste Club für Northern Soul. Die Institution prägte The Verve, dazu kam eine – in den 1990er Jahren in Musikerkreisen aber gar nicht so seltene – Vorliebe für den comicartigen Psychofunk von George Clinton oder Bootsy Collins. Diese Einflüsse spiegeln sich im Groove der britischen Band wieder, die rockige Attitüde ist wohl eher auf die Rolling Stones zurückzuführen. Immerhin spielte Ashcroft als Teenie in einer Band, die speziell die Songs von Jagger/Richards coverte. So verwundert es auch nicht, dass die »Bitter Sweet Symphony« durch ein Zitat geprägt wurde, dessen Urheberschaft noch eindeutiger erkennbar ist als bei »Atemlos durch die Nacht«. Jene Geigen, die den Song strukturieren, ihn besonders wiedererkennbar machen und den Text rund um Gleichförmigkeit, Nebeneinanderherleben und kollektives Desinteresse mit wohligen Klängen greifbar machen, stammen von einer Instrumentalaufnahme des klassischen Stones-Hits »The Last Time«, die deren einstiger Manager Andrew Loog Oldham mit einem Sinfonieorchester eingespielt hat.

Aber all das macht überhaupt nichts, die »Bitter Sweet Symphony« gibt sich sowieso noch bittersüßer als es das freilich auch rechtschaffen großartige »The Last Time« ist. Beide Songs kann man auch sehr gut auf ein Mixtape platzieren, wenn man etwa das Ende einer Beziehung mal angemessen der Weltöffentlichkeit, seinem weidwunden Herzen oder der Ex präsentieren will. Wer das mit mehr als einer Prise Verzweiflung, mit einem Esslöffel Selbstmitleid und jeder Menge Trauer hinbekommen möchte, der packt die beiden Lieder zusammen, nimmt meinetwegen noch »Say Hello, Wave Goodbye« von Soft Cell oder »Don't Look Back In Anger« von Oasis mit dazu. Weil: Unprätentiös vom Scheitern singen und schreiben konnten die Jungs von der Insel halt schon immer. Man denke nur an Richard Hawleys ebenfalls passendes, für Tony Christie geschriebenes Opus »Born To Cry« oder an »Where Have All The Good Times Gone« von den Kinks. Schließlich haben die Briten schon mehr verloren als »nur« die Liebe einer Frau. Eigentlich haben sie ja vor Jahr und Tag auch das einzige Endspiel eine Fußball-WM nur mangels fehlender Torlinientechnologie gewonnen: Schließlich dürfte es sich mittlerweile auch in der Gegend zwischen den Klippen von Dover und dem Hadrianswall herumgesprochen haben, dass Geoff Hurst damals, an jenem denkwürdigen 30. Juli 1966 zwar den deutschen Nationaltorwart Tilkowski überwunden hat, der Ball aber von der Latte nicht hinter den weißen Kreidestrich sprang. Es ist schon »Bittersweet«, aber halt auch Fakt.

Nächste Woche geht es hier übrigens um ein sehr anders geartetes Lied – und zwar um »Hallelujah«. Das von Leonard Cohen geschriebene Stück wurde, ach Du »Shrek«, mehrfach und in unterschiedlichen Versionen gewünscht. Ich bespreche sie alle. Auf einmal. So, aber nun gehe ich. Ihr könnt ja gern noch ein bissl hier bleiben, auf kolumnen.de stöbern. Das macht Spaß und trägt zu Eurer Bildung bei. Macht's gut und bleibt am besten, wie Ihr seid. Weil Euch ja im Grunde genommen ohnehin kaum etwas anderes übrig bleibt.