26.11.15

Manfred Prescher

Miststück der Woche IV/48 – erster Teil – Marvin Gaye: »I Heard It Through The Grapevine«

Zehn Jahre sind eine lange Zeit, zumindest, was die Existenz einer Kolumne angeht. Tatsache aber ist, dass Manfred Prescher das »Miststück« seit einem Jahrzehnt praktisch Woche für Woche unter das Volk streut. Wenn das kein Grund zum Feiern ist… Zum Geburtstag gibt es daher heute gleich zwei Kolumnen – eine hier und eine in der alten, österreichischen Heimat der Textreihe, nämlich bei www.evolver.at.

Marvin Gaye

Foto: Motown USA

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf – und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, dass du nur noch die Welt retten musst oder dass Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

Wie schon öfter, stand am Anfang eine Schnapsidee: Jürgen Fichtinger, der hochwohlgeborene Chefredakteur von evolver.at, meinte irgendwann im September 2005, dass es doch eine prima Idee wäre, mal um einzelne, mehr oder minder fiese Musikstücke herum zu mäandern. Er ging dabei allerdings davon aus, dass ich erstens schnell das Interesse und die gute Laune darüber verlieren würde und das spornte mich zweitens an, gleich – im besten Deichkind-Sinn »groß zu denken« und ihm Blöcke à 100 Kolumnen zu versprechen. Was mich damals wohl geritten hat? Keine Ahnung! Immerhin verlangen 100 Miststücke bei einem Output von einem Text pro Woche dann doch eine Zuverlässigkeit über einen langen Zeitraum hinweg. Mittlerweile sind es rund 350 Ausgaben geworden – und ein Ende ist nicht in Sicht. Denn wenn es mit der Nummer 400 dann mit den Leserwünschen zu Ende geht, dann werde ich mich wieder aktuellen Strömungen widmen. So der Herausgeber, der Chefredakteur und ihr da draußen in der virtuellen Welt das wollt.

Anlässlich des 300. Miststücks hat Herr Felix Austria gemeinsam mit einer ebenso charmanten wie klugen Kollegin ein Interview mit mir geführt, in dem ich ein kommendes Ende der Reihe angekündigt habe – aber die Zeiten ändern sich manchmal, zumindest, wenn es um Meinungsäußerungen geht. Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Eigentlich eine ganze Menge, aber ich habe wieder richtig Lust auf diese Kolumne. Zehn Jahre sind doch schließlich kein Alter, oder?

Und nun rein ins Vergnügen: Im ersten Teil des Jubiläums-Doppels geht es um einen definitiven Schlussmach-Klassiker, um »I Heard It Through The Grapevine«. Als junger Mensch dachte, dass es sich beim Wort »Grapevine« um einen weißen Schimmel oder so etwas handeln müsse, denn wer sagt schon Traubenwein? Will man den Satz allerdings richtig übersetzen, dann heißt er: »Mir wurde das Gerücht zugetragen«. Und um welches handelt es sich? »Dass Du nicht mehr länger mein bist«. Das heißt, dass es in puncto Schlussmachen auch schon vor den Zeiten, in denen man Beziehungen via WhatsApp oder durch Veränderung im Gesichtsbuch-Status ändert, ziemlich unpersönliche Möglichkeiten gab.

Single: I Heard It Through The Grapevine

Der Song ist jedenfalls einer von Ewigkeitsformat – und steht doch auch für eine Zeitenwende. Der Bass trägt durch die Version von Marvin Gaye, macht das Soulstück recht funky, verweist damit auch schon darauf, dass die Zeiten der harmlosen Schlager aus dem Hause Motown im Begriff sind zu Ende zu gehen. Gaye wird einige Jahre und Schicksalsschläge später zum Beispiel das Album »What's Going On« aufnehmen, die Temptations, Stevie Wonder und andere Künstler der von Barry Gordy gegründeten Hitschmiede werden sich ebenfalls politischeren bzw. gesellschaftlich relevanteren Themen zuwenden. Die Zeit der Unschuld ist mit den Morden an Martin Luther King und Malcom X, mit dem immer unerbittlicher geführten Krieg in Indochina und dem desillusionierten Ende des Sommers der Liebe vorbei. Bei Motown bekam man natürlich mit, wie die junge Community an den Lippen von James »Gottvater« Brown hing. »Say It Loud, I'm Black And I'm Proud« hieß die Losung, die der von Brown zusammengestellte Kinderchor in Lied und Video nur zu gern skandierte. Letztlich wollte Gordy mit Sozialkritik und Funk natürlich Geld verdienen. »War, what is it good for«, fragte zum Beispiel Edwin Starr. Natürlich für nichts Gutes. Gießt man es in Zeiten von Kriegsangst und Friedenssehnsucht in einen groovigen Song, lässt sich mit dem Thema allerdings ordentlich Geld verdienen – und das sah der oft als afroamerikanischer Ausbeuter kolportierte Gordy auch so.

Das war jetzt natürlich etwas verknappt dargestellt, aber »I Heard It Through The Grapevine« markiert wirklich den Umbruch in der plötzlich gar nicht mehr so heilen Welt von Motown. Es ist zwar immer noch eine Art verzweifeltes Liebeslied, aber in der Rückschau wirkt die Mischung aus dunklem Groove und Gayes verletzt-wütender düster und unheilschwanger. Die Produktion ist – typisch für das Label aus Detroit – perfekt, aber hier klingt kaum noch etwas nach dem »Sound of Young America«, den Motown sonst mit heiterer Opulenz propagierte. Von den 1960er Jahren fast nichts zu hören, und das macht den Song so zeitlos.

Dabei ist Marvin Gayes Version bereits der dritte Versuch, mit »Grapevine« Geld zu verdienen. Norman Whitfield und Barrett Strong schrieben das Lied 1966, und die Miracles um William »Smokey« Robinson nahmen es zuerst auf. Allerdings wurde deren Variante erst 1998 veröffentlicht. Ein Riesenerfolg in den R&B-Charts wurde der Song 1967 in einer Uptempo-Version von Gladys Knight & The Pips. Die wurde – warum auch immer – zwar einige Monate nach Marvin Gayes Kleinod eingespielt, aber deutlich vorher veröffentlicht – und gleich mal rund 1,5 Millionen Mal verkauft. Gayes »Grapevine« blieb eineinhalb Jahre im Archiv und man munkelt, dass man anno 1968 kein geeignetes Material für den immer unzufriedener werdenden Künstler fand. Der war zu dieser Zeit tatsächlich nur noch im Verbund mit seiner Duettpartnerin, der 1970 verstorbenen Tammi Terrell, erfolgreich.

Single: I Heard It Through The Grapevine

Songs mit verschiedenen Künstlern aufzunehmen, hatte bei Motown in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren Methode. Auch »War«, »Ball Of Confusion« oder »Papa Was A Rolling Stone« wurden mehrfach interpretiert, bis sich die finale Hitversion herauskristallisierte. Aber »Grapevine« war längst schon ein Erfolg, bevor Gaye damit ein Evergreen gelang. Übrigens: Auch danach war der Song bei Motown ein Thema – so nahmen ihn die Temptations und Undisputed Truth jeweils durchaus überzeugend auf. Andere Künstler brillierten ebenfalls mit der sehr einfachen, extrem eingängigen Melodie – etwa Ike & Tina Turner oder Roger »Zapp« Troutman, der anno 1981 damit in die Charts kam. Mir gefällt auch die Version der Kaiser Chiefs, darüber schrieb ich 2006 mal ein Miststück. Band und Version sind freilich längst auf dem Schuttabladeplatz der Popgeschichte verbuddelt. Nicht zum Hit, aber zum Dauerbrenner wurde die rund elf Minuten lange Aufnahme von Creedence Clearwater Revival, die Band steckte den Grundbeat von Gaye in ein rockendes Korsett. Nachzuhören ist das auf der LP »Cosmo's Factory«. Dass »Grapevine« nach der Auflösung von CCR noch als Single veröffentlicht wurde, nahm allerdings weit und breit niemand zur Kenntnis. Drum vergessen wir diese Kurzfassung ganz schnell wieder. Und wenden uns gen Süden – nach Österreich. Dorthin schlendere ich jetzt gemütlich, die Tastatur auf den Schultern balancierend. Denn von Wien aus geht es mit dem nächsten Leserwunsch und dem zweiten Teil des Miststück-Jubiläums weiter. Grad denke ich übrigens daran, dass ich mal im Rahmen einer Jubiläums-Ausgabe der Kolumne die besten, wichtigsten, weiß-der-Bubu-was Schlussmachsongs gekürt habe. Marvin Gaye ist auch dabei, aber nicht mit »Grapevine«, sondern mit dem 1978er »Here My Dear« vom gleichnamigen, sich komplett um das Beziehungsende herumdrehenden Doppelalbum.

Bis nächste Woche soll es das an dieser Stelle erst mal gewesen sein – ich übergebe feierlich an die Kollegen von www.evolver.at. Four, three, two, one, lift off«