02.07.01

Selina Riefenstahl

Der Himmel über Wiesbaden

Heute Morgen habe ich den Engel von Frau Wasmut gerempelt. Frau Wasmut ist meine Nachbarin von schräg vis-á-vis. Sie ist eine kleine, dralle, energische Person von ungefähr Mitte 50. Frau Wasmut hat ihren Stammplatz im Küchenfenster, dort lebt sie.

Andere Menschen bewegen sich tagsüber, verlassen in der allergrößten Not auch mal das Haus. Nicht so Frau Wasmut, egal ob Sommer, Winter, Weihnachten oder Ostern, Frau Wasmut ist immer da.

Das einzige, was wechselt, ist der Zustand des Fensters. Je nach Jahreszeit ist es geschlossen oder offen. Lange Zeit kannte ich Frau Wasmut gar nicht. Ich bin im Winter eingezogen, da war natürlich das Fenster geschlossen, nur die Umrisse von Frau Wasmut waren schwach zu erkennen. Ich habe auch nur sehr bedingt die Muße am Morgen die Fassaden der Häuser, die auf meinem Weg liegen, prüfend abzusuchen. Neulich kamen die ersten Sonnenstrahlen zum Vorschein, es wurde allmählich Sommer. Die hohe Zeit von Frau Wasmut hatte begonnen.

Sie öffnet täglich ihr Fenster, um sich daraus zu legen, ihren dicken Busen im Fensterrahmen einklemmend. Gestern sprach sie mich zum ersten Mal an: "Fräuleinche, kommse mal rüber?" Ich blickte irritiert in ihre Richtung, sagte zögernd "ja?" und lief in ihre Richtung. "Hammse vielleicht meinen Engel getroffen?" Ich sagte ungläubig: "Ihren Engel?" "Ja, er war schon so lange nicht mehr hier". Bedauerndes Kopfschütteln meinerseits, "Nein, tut mir sehr leid, aber wirklich nicht".

Die spinnt, die Alte, dachte ich und ging meines Weges. Ich lief etwas schneller, weil ich wie immer spät daran war. Und nach diesem vollkommen unsinnigen Gespräch erst recht. So bemerkte ich Bruno Ganz erst nicht; ich trat ihm auf die Füße. Ich erschrak über dieses Zusammentreffen, stammelte "Entschuldigung", er hingegen lächelte nur unendlich milde. Aha, dachte ich, auch solche Leute haben Engel. Und ich glaubte immer sowas gibt es nur bei Wim Wenders.