14.09.10

Axel Scherm

Götterdämmerung für Fortgeschrittene

Es ist natürlich längst an der Zeit, eine Wagner-Kolumne zu veröffentlichen. Nein, keine, wie sie Gossen-Goethe Franz Josef Wagner absondert, sondern, wie es sich für einen gebürtigen Bayreuther wie mich gehört, eine Richard-Wagner-Kolumne.
Nun ist es leider so, dass mir Opern im allgemeinen und Wagner-Opern im besonderen nicht nur nichts, sondern überhaupt nichts geben. Im Gegenteil. Ich kann dieser Kunstform so wenig abgewinnen, dass ich mich selbst für viel Geld, wohlgemerkt, wenn ich es bekäme, nicht wenn ich es bezahlen müsste, nicht freiwillig in ein Opernhaus begeben würde.

Alles in Allem also eher ungünstige Voraussetzungen für ein solches Vorhaben und auch die Tatsache, dass die Realschule, die ich weiland besucht habe, direkt neben dem Festspielhaus liegt, hat bei mir lediglich Kopfschütteln über das mehr als obskure Wagnerpublikum verursacht, wenn es Sekt schlürfend vor nachmittäglichem Aufführungsbeginn bereits zahlreich unter den Balkonen auf und ab zu flanieren geruhte, um den Sängern beim Einsingen zu lauschen. Mimimimimi...

Wozu aber hat man gute Freunde, die als niedergelassene Allgemeinärzte und ihr Heil nicht in Sport Utility Vehicles, sondern in Kunst, Kultur und Feinsinn suchend, das eine ums andere Mal tatsächlich einer von Richard Wagner geschriebenen und in einigen Fällen von seiner Urenkelin Katharina nachhaltig verhunzten Oper beiwohnen. Wenn man dann noch von einem solchen Freund und Allgemeinarzt – nennen wir ihn Dr. Bachstädter – zum Abendessen eingeladen wird und sich an jenem Abend ein paar Notizen macht, kann daraus ein durchaus launiger Insiderbericht in Sachen Wagner-Oper erwachsen.

Es begab sich also, dass Dr. Bachstädter eines Samstags mit seiner Familie zum Wandern unterwegs war und auf dem Heimweg einen kleinen Umweg über den Grünen Hügel in Bayreuth machte, weil er hoffte, dort jemanden zu treffen, der vor dem Festspielhaus stehend ein Schildchen vor sich her trug, auf dem geschrieben stand: Karte zu verkaufen. Wie es der Zufall wollte, stand tatsächlich ein solcher Herr vor der Oper und Dr. Bachstädter kaufte ihm flugs die Karte ab.

Bevor er allerdings der ersehnten Götterdämmerung lauschen konnte, musste er sich in der Herrentoilette noch einer kleinen Eigenbehandlung unterziehen. Sein linkes Ohr war nämlich schmalzverstopft und nur wenn er bis zur Schmerzgrenze am Ohrläppchen zog, war er in der Lage, auf diesem Ohr halbwegs zu hören. Also hatte er sich im Vorfeld in einer Apotheke ein Schmalzentfernungs-Set gekauft, bestehend aus einer Reinigungslösung und einer Ohrenspritze.
Nicht bedacht hatte Dr. Bachstädter jedoch, dass er damit sein Gleichgewichtsorgan empfindlich reizen und nach der Behandlung sein Gang einen ordentlichen Linksdrall aufweisen würde.
Da ging also ein etwa fünfzigjähriger Mann in derben Wanderstiefeln, kariertem Hemd und Walkjanker zum Einlass eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt, zwischen Smoking und Abendkleid tragenden Herrschaften, und seinen schiefen Gang konnte man durchaus so deuten, als hätte er zu sehr vom Flachmann genascht.

Eine ziemlich alte Dame, die in einem besonders extravaganten Abendkleid mit zwei überdimensionalen Puscheln am Hintern an zwei Krücken ging, am Arm ein sündhaft teures D&G-Täschchen und um den Hals, quasi als stilistischer Kontrapunkt, einen Jutebeutel einer bundesweit aufgestellten Drogeriemarktkette, sprach Dr. Bachstädter an, ob er ihr nicht bis zu ihrem Platz behilflich sein könne. Natürlich konnte er, nahm ihr eine Krücke und das Täschchen ab, hakte bei ihr unter und beide wankten, ausgiebigst linke Halbkreise beschreitend, ins Parkett.
Das von ihm mitgebrachte und ihr nonchalant angebotene Sitzkissen lehnte sie mit Hinweis auf ihre beiden Puscheln dankend aber bestimmt ab.

Die Sitznachbarn von Dr. Bachstädter waren zwei ostwestfälische Kleinunternehmer, die ihre Eintrittskarten offensichtlich im Preisausschreiben gewonnen hatten, denn beide hatten nicht die Spur einer Ahnung, um was es in dieser Oper überhaupt ging. Außerdem entwickelte sich für den einen die Erwähnung des Zwerges Alberich zum wahren Erweckungserlebnis, weil sich für ihn damit endlich der Kreis zur kleinwüchsigen Assistentin des berühmten Tatort-Pathologen Professor Dr. Boerne schloss.

Leute gibt's dachte Dr. Bachstädter bei sich, verabschiedete sich nach dem ersten Akt in die Pause und ging zum Parkplatz. Einen echten Wagnerprofi erkennt man übrigens daran, dass er sich in der Pause nicht eins der unbezahlbaren Häppchen zusammen mit einem Glas lauwarmen Champagners kauft, sondern der Kühlbox seines Autos entsprechende Pausenverköstigung entnimmt.
Dr. Bachstädter allerdings hatte in dieser Pause andere Pläne. Er war auf der Suche nach einem Auto mit Nürnberger Kennzeichen, dessen Besitzer er nach der Vorstellung nach einer Mitfahrgelegenheit fragen wollte, weil es eine Zugverbindung aus der oberfränkischen Provinz nach 22:00 Uhr nicht mehr gibt und seine Familie nach der anstrengenden Wanderung bereits mit dem Wagen nach Hause gefahren war.

Die älteren Gäste wechseln oder leeren während der Pause ihre Kathederbeutel, stets mit dem Hintergedanken, diesen endgültig loszuwerden, wenn sich am Schluss der Vorstellung der Regisseur oder im Idealfall die Urenkelin Katharina Wagner höchstselbst den Buhrufen des Publikums stellt und man bei dieser Gelegenheit gut mit gefülltem Beutel werfen könnte.

Ja, Dr. Bachstädter hat eine Mitfahrgelegenheit gefunden. Zwei junge Damen aus Schwabach haben ihn in ihrem alten Golf, Edition Rolling Stones mitgenommen und wohlbehalten zu Hause abgeliefert.
Leider hatte er seine Haustürschlüssel vergessen, und weil er die Familie nicht wecken wollte, hat er versucht über eine Leiter und ein gekipptes Dachschrägenfenster ins Haus zu gelangen. Der Lärm, den er dabei verursachte, erinnerte entfernt an die soeben genossene Götterdämmerung und hat Tochter, Sohn und Frau natürlich geweckt.
Aufstand der Alberiche hat er das Gezeter genannt, das sich aufgrund seines Einbruchs im Hause Bachstädter entwickelte, um daraufhin türschlagend in der Bibliothek zu verschwinden, wo er am nächsten Tag schlafend und in voller Siegfriedmontur, will heißen in Wanderschuhen, kariertem Hemd und Walkjanker in seinem Ohrensessel gefunden wurde.

Diese Kolumne finden Sie auch in Axel Scherms Ende 2010 erschienenem Buch »AxeAge – Das Printlog zum Weblog«.