15.06.12

Axel Scherm

Reval ohne Filter

Ich kenne Lorenz schon sehr lange. Er ist ein Alt-Achtundsechziger, so einer mit Bart und Jesuslatschen. Einer, der immer »oder so« sagt. Das war vor dreißig Jahren mal modern. »Quatscht mich der Typ in der Kneipe an, oder so. Ich reagier' erst gar nicht. Er will Zigaretten oder Feuer oder so. Ich hab' gar keine Lust mit dem zu reden. Er aber hartnäckig, oder so ...«
So halt.
Lorenz hat über dreißig Jahre Jugendarbeit auf dem Buckel, da war es notwendig, die eigene Jugendsprache über die Zeit zu retten. Doch irgendwann haben ihn die Jugendlichen nicht mehr verstanden, oder so, und Lorenz hat sich krank gemeldet. Das war vor ein paar Jahren. Seither ist Lorenz zu Hause, liest Zeitung, erledigt den Haushalt und raucht seine dreißig bis vierzig Reval ohne Filter auf der Terrasse. Wurde ja auch immer schwieriger, dies in Zeiten verschärften Rauchverbots im Jugendzentrum zu tun.

Lorenz bekam Depressionen, Lorenz ging zur Therapie und weil Lorenz Sozialpädagoge und deshalb über die Jahre irgendwie therapieresistent geworden war, hat nicht der Therapeut ihn, sondern er den Therapeuten therapiert. Außerdem hingen während seines Klinikaufenthalts viele Frauen wie Kletten an ihm, suchten Rat und Trost und irgendwie auch Therapie.
Als Lorenz wieder zu Hause war, die Zeitung las, den Haushalt erledigte, mit seiner Frau Streit bekam, weil so viele Frauen Rat und Trost und irgendwie auch Therapie bei ihm gesucht und offensichtlich auch gefunden hatten und er deshalb nicht dreißig bis vierzig, sondern vierzig bis fünfzig Zigaretten rauchen musste, bekam er – man ist versucht zu sagen NATÜRLICH – einen Herzinfarkt.

Seine vom Revalrauch verengten Gefäße wurden daraufhin mit einigen Stents erweitert und wieder auf Vordermann gebracht. Doch auch in der Klinik war er ganz schnell berühmt und berüchtigt für gelebte Neunmalklugheit und Renitenz und so wurden nicht Chef- und Oberärzte zu seiner Behandlung abkommandiert, sondern unerfahrene Assistenzärztinnen aus der Ukraine und Pfleger, die entfernt an jene aus dem Film Einer flog über das Kuckucksnest erinnerten.

Eine Wohltat war es daraufhin für Lorenz, als er in irgend ein Bad Wellburghausen hinterm Wald zur Kur geschickt und dort von einfühlsamem Verwaltungs- und Pflegepersonal sowie deutschsprachigen Ärzten empfangen wurde.
Seine Eigendiagnose bezüglich seiner Rauch- und Trinkgewohnheiten lautete Kognitive Dissonanz. Als Chef- und Oberarzt nachzufragen beliebten, was denn das für ein Phänomen sei, antwortete er frei nach Dr. Eckart von Hirschhausen: Wir denken gerne schlau, handeln dann aber blöd! Daraufhin grinsten die Ärzte wohlwollend und hatten Lorenz von Stund an in ihr Herz geschlossen.

Um dem Ungemach zu entgehen, das ihm bei der ersten Kur widerfahren war, nämlich dass sich wieder Heerschaaren harmonie- und therapiebedürftiger Frauen an ihn klammerten, verschwieg Lorenz dieses Mal seinen sozialpädagogischen Hintergrund und gab sich als Park- und Landschaftsgärtner, Spezialgebiet »Hecken und Büsche« aus.
Und das kam so: Natürlich konnte es Lorenz nach überstandenem Eingriff in der Herz- und Leistengegend nicht lassen, sich die eine um die andere Reval ohne Filter anzustecken.
Die ersten nur paffend und weit weg vom Körper haltend, später dann allerdings schon wieder schön Richtung Herzkranzgefäß inhalierend. Dazu war auf der Terrasse der Kurklinik ein separat stehendes, rundes Tischchen mit der Aufschrift »Raucherparadies« aufgestellt, das Lorenz schon aus Prinzip ignorierte. Stattdessen setzte er sich an einen anderen, freien Nichtraucherparadies-Tisch, um dort provozierend zu qualmen und frech in die angrenzende Buchsbaumhecke zu aschern.

Einer wenig harmonie- und therapiebedürftigen Dame war dies ein sprichwörtlicher Dorn im Auge und stellte mit den Worten »finden Sie das vielleicht in Ordnung?« den Aschenbecher vom Rauchertisch demonstrativ neben Lorenz, auf dass er ihn gefälligst benutze.
Daraufhin kam Lorenz die Idee mit dem Landschaftsgärtner und er erklärte im Brustton der Überzeugung, Buchsbaumhecken würden dann am besten gedeihen, wenn man sie mit einem Sud aus Wasser, Revalkippen und Zigarettenasche dünge. Außerdem gab er ihr, falls Bedarf bestehe und um den Wahrheitsgehalt seiner Aussage nachhaltig zu unterstreichen, auch noch die Adresse seines vermeintlichen Internet-Versandhandels: www.buesche-und-hecken.de.
»Die hat das tatsächlich geglaubt«, gab Lorenz zu Protokoll, als wir dieser Tage telefonierten und mir fiel der Händler für gebrauchte Gebüsche aus Monty Pythons Ritter der Kokosnuss ein.

Doch Lorenz ist nicht nur dem Tabakgenuss zugetan, er nimmt auch gerne mal ein Gläschen Rotwein zu sich, selbstverständlich nur deshalb, weil der diesem Getränk nachgesagte Pektin-Gehalt dem Wohlbefinden des Herzens überaus zuträglich sein soll. Beim Weinkauf im nahegelegenen Bad Wellburghausen achtete er immer peinlich auf Flaschen mit Schraubverschluss, weil er keinen Korkenzieher dabei hatte.
Dummerweise erwischte er eines Tages dann aber doch eine verkorkte Flasche. Das Problem, an den darin befindlichen Rotwein zu gelangen, schien gelöst, als ihm ein Tischnachbar ein schon etwas in die Jahre gekommenes Klappmesser mit Korkenzieher lieh, Lorenz aber den materialermüdeten Zieher, sobald er diesen in den Korken gedreht hatte, kurzerhand abbrach. Diesen Abend also kein Rotwein, dachte Lorenz und nahm sich vor, beim nächsten Besuch in Bad Wellburgdingens ein Schweizer Messer in einem Haushaltswarengeschäft zu erstehen. Das in der Auslage befindliche Modell war ihm mit knapp vierzig Euro etwas zu teuer und so entschied er sich für eine Variante von knapp zwanzig Euro, bei der er allerdings am Abend in seinem Zimmer feststellen musste, dass es zwar ein Messer eine Säge, eine Schere und diverse Manikür-Utensilien enthielt, aber keinen Korkenzieher.
Diesen Abend also auch keinen Rotwein, dachte Lorenz und tauschte den Fehlkauf am nächsten Tag gegen ein nochmal um fünf Euro teureres Messer mit Korkenzieher um.
Damit sich diese Investition auch lohnte, kaufte er schließlich einen ganzen Karton Rotwein mit verkorkten Flaschen und veranstaltete an diesem Abend mit seinen Tischnachbarn eine Zimmerpartie, bei der keine der sechs Flaschen überlebte und angeblich sogar geraucht wurde.

Es muss etwas lauter zugegangen sein, bei diesem Gelage, denn die wenig harmonie- und therapiebedürftige Buchsbaumheckenschützerin beschwerte sich am nächsten Morgen wegen der nächtlichen Ruhestörung.

Das Gegenteil von Ruhestörung war die Lautstärke der Stimme der – NATÜRLICH – aus der Ukraine stammenden Ärztin, die mit Lorenz das Abschlussgespräch am Ende seiner Kur führte. Er musste wegen ihres flüsternden Stimmchens mehrfach nachfragen, wenn sie etwas sagte.
Als er bei einer Reval ohne Filter im Abschlussbericht altersbedingte Schwerhörigkeit las, musste er kichern, dachte Hauptsache, keine Schweißfüße, oder so und ascherte in die Buchsbaumhecke.