Diese Kolumne lässt sich auch hören!

»Schießen Sie nicht auf den Pianisten« vorgetragen von Tom Wendt
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

24.08.05

Axel Scherm

Schießen Sie nicht auf den Pianisten

Ich fühle mich wie Otto. Nein, nicht wie Otto Waalkes, ich meine den hintergangenen Otto, den »Nenn mich nie wieder dämlich«-Otto aus »Ein Fisch namens Wanda«, und zwar in der Szene, als er mit großkalibriger Waffe in den von seinem Ganoven-Kumpel eigenhändig ausgeräumten Safe ballert und in typischer Kevin-Kline-Manier herumzickt und hysterisch kreischt: »Ich bin enttäuscht«.
Ich schwöre, wenn ich jetzt eine Waffe hätte, ich würde es tun. Ich würde auf den Computer-Bildschirm, der vor mir steht, schießen und »ich bin enttäuscht« schreiend das Magazin leer feuern, bis nur noch Funken und Dampf dem Monitor entsteigen, so enttäuscht bin ich.

Dabei hat alles so bittersüß schön begonnen. In meinem Tagebuch klebt heute noch der Bericht aus der Tageszeitung. Der Bericht über den traurigen Pianisten.
Vor rund fünf Monaten wurde er in England am Strand von Sheerness auf Sheppey – Gott allein weiß, wo genau das liegt – aufgegriffen. Ein blasser, verängstigter junger Mann mit kurzen, blonden Haaren und Dreitagebart, in tropfnassem Abendanzug, aus dem angeblich sämtliche Etiketten herausgetrennt waren, ohne irgendwelche Papiere und damit ohne Identität. Der Mann sprach kein einziges Wort, zeigte autistische Züge, fing immer wieder an zu weinen und wurde schließlich in der Grafschaft Kent in die Little-Brook-Klinik zu Dartford eingewiesen. Als man ihm aufgrund anhaltender Sprachverweigerung einen Zeichenblock gab, malte er einen Konzertflügel in allen Details. Und weil jeder hausfrauenpsychologische Ratgeber daraufhin vorgeschlagen hätte, den Kerl an einen Konzertflügel zu setzen, taten es auch die verantwortlichen Ärzte. Zufälligerweise stand in der anstaltseigenen Kirche ein solches Teil, und, wie sollte es anders sein, der junge Mann mit dem schwermütigen Blick war in der Lage, virtuos Klavier zu spielen, wenngleich der Klinikpfarrer einschränkend zu bemerken geruhte, zur Weltklasse gehöre der junge Mann nicht, lediglich eine Melodie von John Lennon und Passagen aus Tschaikowskys „Schwanensee“ seien zu erkennen gewesen. Jedenfalls wurden daraufhin Orchester in ganz Europa ob eines verlustig gegangenen Pianisten angeschrieben und die Behörden veröffentlichten ein Foto des Mannes, dessen Haar offensichtlich gefärbt war.
Soweit die mehr als dünne Faktenlage.

Mich jedenfalls hat das Schicksal dieses tieftraurigen Menschen so sehr angerührt, dass ich den Zeitungsbericht ausgeschnitten und in mein Tagebuch geklebt habe. Außerdem habe ich mich in unregelmäßigen Zeitabständen über seinen Zustand im Internet bei renommierten Online-Diensten wie denen von Spiegel, Stern, Focus und der Süddeutschen informiert. Deren Recherchen brachten unter anderem zu Tage, er habe in einem tschechischen Orchester gespielt. Später war er dann angeblich mit einer französischen Straßenmusikgruppe unterwegs und zum Schluss soll er ein Ire namens Dominic gewesen sein, den man in Norwegen erkannt haben wollte, weil er zu Studentenzeiten in den neunziger Jahren in Oslo gelebt habe.

Doch was musste ich nun bei Spiegel Online und allen anderen Informationsdiensten lesen? Der Kerl war und ist ein Simulant.
Er ist (einfach nur) der homosexuelle Sohn eines bayrischen Bauern, der seinen Job in Frankreich verloren und bei seiner Ergreifung einen erfolglosen Selbstmordversuch hinter sich gebracht hatte. Die Sache mit dem Klavier sei ihm einfach so in den Sinn gekommen, und weil er in der Vergangenheit mit geistig Behinderten gearbeitet hatte, war er in der Lage, deren Verhaltensweisen täuschend echt zu imitieren.

Nun, das alles wäre ja gar nicht schlimm, im Gegenteil, Hut ab vor der Leistung, psychologisch geschultes Fachpersonal so lange an der Nase herum zu führen. Vielleicht hatte der junge Mann ja auch irgendwann einmal „Mein Name sei Gantenbein“ von Max Frisch gelesen und sich gedacht, nicht blind, sondern stumm will ich sein. Immerhin zählt Frischs Roman zur Weltliteratur.
Als allerdings von sämtlichen Online- und Printmedien zugegeben wurde, der Mann könne überhaupt nicht Klavier spielen, sondern im Gegenteil, er habe auf dem Klavier immer nur eine einzige Taste gedrückt, fühlte ich mich, gelinde gesagt, nachhaltig verarscht. Da wurde ganz am Anfang ein Gerücht in die Welt gesetzt und weil schließlich einer vom anderen abgeschrieben hatte und wie bei der stillen Post aus einem einzigen Ton am Ende ein virtuoses Klavierstück entstanden ist, wollte auch niemand mehr dementieren. So etwas ist billigste Journaille!

Ich hatte mir so herrliche Geschichten um diesen seltsamen Mann ausgedacht. Ich hatte ihn tatsächlich als Abgesandten einer fernen Welt gesehen, der uns mit Musik und Melancholie eine Stufe höher bringt, weg aus dieser kalten, von Kommerz, falschem Ehrgeiz und Neid zerfressenen Welt. In meiner Vorstellung war er zum Messias mutiert, zu einem Botschafter, zu einem Reisenden in Sachen Humanität, zu einem Anhalter aus der Galaxis.
Das Ende der Geschichte um den Piano Man ist (leider) sehr profan. Nicht weil er homosexuell ist, oder weil er von einem bayrischen Bauernhof abstammt, nicht, weil er sich umbringen wollte oder weil er monatelang eine psychiatrische Heilanstalt geleimt hat, sondern deshalb, weil ihn sämtliche Medien für ihre sensationsgeilen Meldungen missbraucht haben und naive Menschen wie ich darauf hereingefallen sind. Das ist unverzeihlich und verlangt nach Rache. Ich denke, ich werde morgen sämtlichen Kindern in der Nachbarschaft erzählen, dass Harry Potter gar nicht zaubern kann, oder noch besser, dass es ihn überhaupt nicht gibt.