03.11.06

Stefan Schrahe

Die Paten

Mal ganz ehrlich: Passiert es Ihnen nicht auch immer wieder, dass Sie stets von Freunden mit Problemen zugelabert werden, die Sie schon in- und auswendig kennen? Und ist es nicht so, dass Sie sich dabei nur einer Sache wirklich sicher sein können: dass auf Ihren Rat garantiert nicht gehört werden wird?

Oder: Ist es Ihnen nicht auch schon oft so ergangen, dass die Probleme anderer Menschen wie ein offenes Buch vor Ihnen lagen und Sie genau wussten, an welchem Hebel man ansetzen muss, um mit einem Schlag alles in Bewegung zu versetzen und in Wohlgefallen aufzulösen; dass also Ursache, Wirkung und geeignete Abhilfemaßnahmen der vermeintlichen Lebensrätsel von Freunden oder Familienangehörigen, Kollegen oder Bekannten sich Ihnen als klar auf der Hand liegend und wie aus dem Lehrbuch präsentierten – nur bei Ihren eigenen Problemen immer alles so fürchterlich kompliziert, verworren und miteinander verstrickt erschien?

Hermann Bresich kann ein Lied davon singen. Der diplomierte Kausaltherapeut hat in seiner langjährigen Erfahrung als Lebensberater immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es Menschen leichter fällt, die Probleme anderer zu lösen als die eigenen. Und daraus ein Konzept entwickelt, das den Traum vom vernunftbegabten Handeln endlich in greifbare Nähe rücken lässt.

Zweiundsechzig Mitglieder hat die »EDK«-Gruppe des 47-jährigen Heidelbergers. »EDK« steht dabei für »Entscheidungs-Delegations-Konzept«. »Bei uns«, sagt er, »gehört das Zögern vor schwierigen Lebensentscheidungen endgültig der Vergangenheit an.«

Das Prinzip ist dabei ebenso einfach wie verblüffend: Zur Aufnahme in die EDK-Gruppe unterschreibt jedes neue Mitglied eine Erklärung, in der auf das Fällen wichtiger Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen, künftig verzichtet wird. Stattdessen wird jedem Aspiranten ein Mitglied zugelost, das als Pate zukünftig für dessen Entscheidungen verantwortlich zeichnet. »Die Aspiranten«, erläutert Hermann Bresich, »die dann ›Protegés‹ genannt werden, erklären ihr Einverständnis, den Entscheidungen ihrer Paten dabei unbedingt Folge zu leisten.« Gleichzeitig aber – und das ist das Reizvolle an Bresichs Idee – sind sie umgekehrt dazu berechtigt, vom Zeitpunkt ihrer Aufnahme an die Entscheidungen für ein anderes Gruppenmitglied zu treffen.
»Das muss aber«, so Bresich, »nicht notwendigerweise der eigene Pate sein.« Es könne ein beliebiges EDK-Mitglied sein. Das Prinzip sei ähnlich dem Wichteln von Weihnachtsgeschenken auf Betriebsfeiern.

Die Ergebnisse sind in der Tat beeindruckend. Martha G. erzählt: »Mein Protegé hat sich letzten Monat verliebt. Im Urlaub. In eine Frau, die überhaupt nicht zu ihm passt und ihn wohl nur deswegen anzog, weil sie in vielem genau das Gegenteil der Partnerin seiner letzten, gescheiterten Beziehung war. Was natürlich nicht gut gegangen wäre. Jeder Außenstehende hat das sofort erkannt – nur er selbst natürlich nicht. Er hätte einen riesigen Fehler gemacht, wäre mit Sicherheit nach kurzer Zeit unglücklich geworden und dann allen Freunden mit seinem Gejammer auf die Nerven gegangen. So aber habe ich ihm die Verbindung zu dieser Frau untersagt und schon nach kurzer Zeit war er drüber hinweg.«

Und wie steht Heiner M., besagter Protegé, zu dieser Methode? »Natürlich ist es zuerst etwas ungewohnt, nicht mehr selbst für wichtige Entscheidungen des eigenen Lebens zuständig zu sein«, sagt der 35-jährige Informatiker. »Aber nach einer Weile erkennt man doch die Vorteile. Schließlich sieht ein Außenstehender mehr als man selbst. Wenn man sich in einem Wald verlaufen hat, kann man sich ja auch nur von einem Hubschrauber aus helfen lassen, wieder herauszufinden. Und außerdem«, lächelt er verschmitzt, »habe ich als Pate bei meinem Protegé auch eine ganze Menge zu sagen.« So hat er vor wenigen Tagen kurzerhand die Wohnung seines Protegés gekündigt, weil dieser nicht einsehen wollte, dass deren hohe Unterhaltskosten für die ständigen Finanzprobleme verantwortlich waren. »Dass er über seine Verhältnisse lebte, hat jeder gesehen«, resümiert Heiner M., »nur er selbst nicht.«

Ständige Erreichbarkeit zwischen Paten und Protegés ist eine absolute Voraussetzung für das Funktionieren des Systems. »Letzte Woche hatte ich bei der After-Work-Party diesen Typen kennen gelernt«, erzählt Martha G., »und hätte wahrscheinlich alleine stundenlang überlegt, ob ich ihn mit zu mir nach Hause nehmen sollte. Stattdessen habe ich einfach meinen Paten angerufen. Er hat gesagt, es sei okay und dann war es das für mich auch.«

Hermann Bresichs Konzept jedenfalls scheint aufzugehen. Seine EDK-Gruppe verzeichnet hohe Zuwachsraten. Drei Dinge vermutet er als Ursache für diesen Erfolg. »Erstens«, sagt er, »läuft man nicht mehr unendlich lange mit unbewältigten und ungelösten Problemen herum. Zweitens werden Ratschläge, die man anderen gibt, endlich auch befolgt. Und drittens«, fügt er hinzu, »wenn´s dann doch mal schief geht, kann man immer noch sagen: Jemand anders war schuld.«