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»Normal« vorgetragen von Tom Wendt
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).
Das Gesicht der Tankstellen-Kassiererin ist ein einziges großes Fragezeichen. Die in der Schlange hinter mir mustern mich misstrauisch und ich fühle mich wie jemand, der als einziger die Durchsage, dass der Zug heute von einem anderen Gleis abfährt, nicht mitbekommen hat und sich wundert, warum der Bahnsteig, auf dem er steht, so leer und der andere gegenüber so voll ist. Dabei habe ich nur gesagt, dass ich keine Punkte sammle.
Es passiert mir immer öfter, dass ich mich frage, ob ich eigentlich normal bin. Es fängt bei harmlosen Dingen an. So scheine ich der Einzige zu sein, der noch nie seinen Mobilfunk-Provider gewechselt hat, ebenso wenig wie den Stromlieferanten oder die Festnetz-Telefongesellschaft. Ich kann auch nicht bei Gesprächen über Flatrates oder den täglichen Wechsel von Call-by-Call-Nummern mitreden. Professionellen Anrufern von Call-Centern, die mir angeblich zur Senkung meiner monatlichen Gebühren für Telefon, Handy oder Strom inklusive der Anrechnung auf mein »Miles&More«-Konto verhelfen wollen, antworte ich, dass ich darin eine unvertretbare Komplizierung meiner Lebensverhältnisse sähe. Einmal in die Suche nach dem günstigsten Angebot eingestiegen, würde ich mich vermutlich im dichten Gestrüpp von Tarifen, Sonderregelungen und bis zum Monatsende befristeten Angeboten heillos verstricken.
Gibt es noch jemanden außer mir, der seit vierundzwanzig Jahren sein Konto bei derselben Bank hat? Der sich weder an neue Kontonummern, noch PINs oder Passwörter gewöhnen will? Ich weiß nicht, wie man sich zig verschiedene vier-, sechs-, acht- oder zehnstellige PINs merken soll – außer, man setzt sich jeden Tag mindestens eine halbe Stunde zum Lernen und Auffrischen hin. Stattdessen habe ich immer und überall dieselbe PIN, dasselbe Passwort und denselben Benutzernamen. Obwohl in Ratgeber-Zeitschriften davor gewarnt wird. Ich lese aber keine Ratgeber-Zeitschriften, da sie mich immer mit dem unangenehmen Gefühl zurücklassen, man könne stets und überall mehr falsch als richtig machen – egal ob bei Kindererziehung, bei Aktienkäufen oder der Fleckentfernung. Ich stelle allerdings fest, dass es mit jedem Tag immer mehr Menschen zu geben scheint, die mit dieser Form der Lebensoptimimierung nicht die geringsten Schwierigkeiten haben.
Die sammeln auch REWE- oder Payback-Punkte. Es ist noch nicht lange her, da konnte ich gut damit leben, keine zu sammeln. Aber die Blicke werden von mal zu mal kritischer und ich warte auf den Tag, wo die Kassiererin laut zu ihren Kolleginnen ruft: »Hier ist einer, der keine Payback-Punkte sammelt« und sich dann alle Köpfe in meine Richtung drehen und mich in einer Mischung aus Entsetzen und Empörung ansehen – als hätte ich gerade eine Zeitung für Pädophile gekauft, und die Kassiererin ihre Kollegin laut nach dem Preis gefragt. Wahrscheinlich wird auch das Sicherheitspersonal großer Supermärkte bald auf Nicht-Payback-Sammler wie mich aufmerksam, wir kommen unter Generalverdacht und werden im Rahmen der Anti-Terror-Gesetze auf eine Stufe mit Rucksackträgern gestellt.
Anfangs hat man versucht, mich zu bekehren. Hat mir mehrfach Payback-Broschüren mit Antragsformularen in die Hand gedrückt. Ich habe alles ungelesen ins Altpapier geworfen. Denn mein Leben ist kompliziert genug und ich will es mit dem Antrag auf eine Payback-Karte nicht unnötig verschwierigen. Nicht nur, dass ich mir dann überlegen müsste, nur noch in bestimmten Läden einzukaufen und regelmäßig meinen Punktestand zu überwachen. Ich würde mich auch noch vor dem Verfall der gesammelten Punkte für eine der völlig unnützen Prämien entscheiden müssen – etwa den »Salewa Wanderrucksack« oder »Grilliput«, den tragbaren Grill. Obwohl ich weder gerne wandere noch gerne grille.
Und das ist auch schon das nächste Problem. Es ist nicht die Angst vor krebserregenden Nitrosaminen oder Acrylamid. Mich stört der Qualm, der unweigerlich beim Versuch, das Feuer zu entfachen, entsteht – was bei mir sowieso viel länger dauert als bei anderen. Und dass nachher alle Kleidungsstücke nach Rauch riechen. Auch das Reinigen eines benutzten Grills ist mir ein Gräuel. Ich weiß nicht mal, ob Holzkohle und Asche in den Bio- oder den Restmüll gehören. Und bei dem Gedanken an einen Grill, den man am Abend stehengelassen hat und der über Nacht im Regen stand, vergeht mir endgültig der Appetit.
Nicht gerne zu grillen, hatte mich aber zunehmend isoliert, weil es gesellschaftlich noch stärker geächtet wird als Nicht-Sammeln von Payback-Punkten. Um das Mindeste an sozialer Kompetenz zu demonstrieren, habe ich mir einen Elektrogrill gekauft. Im Sonderangebot. Aber ein Elektrogrill gilt nicht als richtiger Grill. Ich werde von Kollegen komisch angesehen, wenn ich in der Mittagspause davon erzähle, und anstatt endlich als vollwertiger Griller akzeptiert zu werden, habe ich durch diese Anschaffung offenbar abseitige Neigungen geoutet. Zwei Wochen später war der Elektrogrill aus dem Sonderangebot nochmals um 50% reduziert und in der Sonderposten-Ecke standen noch mindestens 30 Exemplare. Wahrscheinlich war ich der einzige, der bis dahin einen gekauft hatte.
Unterdessen steigt mir in meiner Siedlung ständig Grillgeruch in die Nase. Mein Briefkasten wird von April bis Oktober mit Sonderangeboten überschwemmt. Unter Überschriften wie »Die Grillsaison hat begonnen« oder »Alles zum Grillen« ist nicht nur viel Fleisch zu sehen, sondern es wird seitenweise verschiedenes Grillzubehör wie Digitalthermometer oder Gemüse- und Koteletthalter angeboten. In der Fleischtheke im Supermarkt liegt nur noch vorgewürztes Fleisch. Meine Nachbarn haben jetzt einen wettersicheren Kamingrill und im Fernsehen zeigen stolze Dauercamper, dass sie auch bei minus 15 Grad, jahraus, jahrein, an jedem Wochenende zwischen Freitagabend und Sonntagnachmittag grillen. In einer Nachmittags-Talkshow wurde eine junge Frau nach den Hobbys ihres Partners gefragt. Nach zwanzig Sekunden angestrengten Nachdenkens hellte sich ihr Gesicht auf und mit der größten Selbstverständlichkeit sagte sie endlich: »Er grillt gerne.«
In dem kostenlosen Anzeigenblättchen, das jeden Donnerstag in meinem Briefkasten liegt, fiel mir das Inserat eines Swinger-Clubs auf. Täglich werde dort ab 18:00 Uhr gegrillt. Ich vermute, dieses Argument wird auch die letzten Zweifler vom Besuch eines Swinger-Clubs überzeugen und bald stehen dort mehr Männer am Grill als im »Dark-Room«. Und wahrscheinlich gibt es im Swinger-Club inzwischen auch Payback-Punkte.
Die Tankstellen-Kassiererin blickt mich immer noch staunend an. Auf dem Tresen neben der Bild-Zeitung liegen in Folie verpackte Sexmagazine für 9,80 Euro. Links davon rosa Handschellen und neben dem »Fisherman's Friend«-Dispenser Schlüsselanhänger in Form eines männlichen Geschlechtsorgans. Auf einmal verstehe ich.
»Doch«, sage ich. »Ich sammle Punkte. Und außerdem fahre ich jetzt zum Grillen in den Swinger-Club. Das habe ich mir als Prämie aus dem Payback-Katalog ausgesucht.«
Ihre Gesichtszüge entspannen sich. Und ich komme mir zum ersten Mal an diesem Tag richtig normal vor.