21.10.05

Stefan Schrahe

Mut machen

Ich bin Albert Einstein. Ich bin aber auch Ludwig Erhard oder Johann Wolfgang von Goethe. Ich bin sogar Beate Uhse. Auf jeden Fall aber bin ich Deutschland. Das zumindest entnehme ich den Plakaten und Fernsehspots, die mir seit Wochen ein schlechtes Gewissen und klar machen wollen, es läge an Menschen wie mir – als Angestellter immerhin seit siebzehn Jahren Schöpfer von gesellschaftlichem Mehrwert sowie braver Steuer- und Beitragszahler für alle sozialen Sicherungssysteme –, dass immer noch kein Ruck durch dieses Land ginge und Deutschland wieder nach vorne käme. An Menschen also, die endlich die Ärmel hochkrempeln und – mit was auch immer – anfangen sollen.

»Geh' runter von der Bremse«, plärrt mir ein freches kleines Mädchen entgegen, das man dafür eigentlich körperlich züchtigen sollte. »Reiß' Bäume aus« rät mir Harald Schmidt. Und Erkan von »Erkan & Stefan« fordert mich auf: »Meckere nicht über Dein Land, sondern biete ihm Hilfe an«. Tu' ich doch gar nicht, bin ich geneigt zu antworten, aber Günter Jauch ermahnt mich väterlich: »Behandle Dein Land doch einfach wie einen guten Freund.«

Wie bitte?

Erstens frage ich mich, seit wann Günter Jauch und ich uns duzen (obwohl er bei »Wer wird Millionär« immer wieder rückfällig wird und zum »Sie« übergeht) – und zweitens, ob wir in den letzten Jahren wirklich auf dem selben Planet gelebt haben. Denn waren es nicht vor allem Focus, Stern und Spiegel, die ständig über Deutschland gemeckert haben? Und hat nicht etwa die Bild-Zeitung seit Jahren mit Negativ-Schlagzeilen (wie »Die üblen Tricks der Hartz IV-Schmarotzer«, »EU schafft Deutsch ab« oder »Entscheiden Türken die Wahl?«) systematisch zur schlechten Stimmung beigetragen, weil längst erwiesen ist, dass Meldungen, bei denen eine Sau durchs Land getrieben wird, den Verkauf am Kiosk beflügeln? Hat nicht »Bild« sogar bundesweit die »Schnauze voll«-Aufkleber verteilt, die mir nicht nur immer häufiger von den Kofferraumdeckeln älterer Autos entgegen prangen, sondern die auch Vorlage für NPD-Plakate im Bundestagswahlkampf waren?

Offenbar alles ein Missverständnis. Denn der Axel Springer Verlag ist ebenso wie der Spiegel-Verlag oder Gruner+Jahr eines der 20 Medienunternehmen, die sich in der Initiative »Partner für Innovation« zusammengeschlossen haben, um endlich die miese Stimmung zu beseitigen und Werbung für den Standort Deutschland zu machen. 20 Medienunternehmen – von ProSieben über RTL, Premiere und die ARD –, die es jetzt anpacken wollen. Beziehungsweise uns auffordern, dass wir es endlich anpacken. »Wie wäre es, wenn du dich mal wieder selbst anfeuerst?« fragt mich Katharina Witt in leicht vorwurfsvollem Ton. Vielleicht meint sie aber auch gar nicht mich. Sondern die fünf Millionen Arbeitslosen. Die einem mit ihrer schlechten Stimmung ja auch wirklich den Spaß verderben können. Aber meinen die drei Werftarbeiter auch Hartz IV-Empfänger, wenn sie: »Egal, wo Du arbeitest, du hältst den Laden zusammen« in die Kamera sagen? Welchen Laden? Das Sozialamt? Wie auch immer. Justus Frantz sagt klar, was er erwartet: »Bring' die beste Leistung, zu der du fähig bist«, ermahnt er uns alle und Walter Kempowski beseitigt endgültig jeden noch bestehenden Zweifel: »Du bist Deutschland«, sagt er mit Betonung auf dem »Du« und reckt mir seinen Zeigefinger entgegen.

Ich also. Und die anderen 82 Millionen Ichs. Wir sind verantwortlich für die Misere.

Nicht Wirtschaftskapitäne wie Jürgen Schrempp, der als größter deutscher Kapitalvernichter nach dem Krieg immer noch von Bunte, Wirtschaftswoche oder Capital hofiert wird – also jenen, die Medienpartner von »Du bist Deutschland« sind. Auch nicht die Chefs der 30 Dax-Unternehmen, die zwar seit Jahren kaum noch Steuern zahlen, dafür aber zigtausende Arbeitsplätze abgebaut haben, die selbst durch ein Beziehungsnetz von etlichen Aufsichtsratsposten abgesichert sind, in Talkshows aber gerne über die schlechten Wettbewerbsbedingungen oder unflexible Arbeiter klagen. Und erst recht nicht die Politiker, die zwar über schlechte Schüler schimpfen und das miserable Abschneiden bei der Pisa-Studie ankreiden, sich aber monatelang und kleinkariert in Föderalismus-Kommissionen über Ganztagsschulen streiten.

Nein, die alle sind nicht schuld. Wir sind es. Weil wir uns nicht mehr die Hände schmutzig machen wollen, wie mir der Autoschlosser im »Du bist Deutschland«-TV-Spot in breitem Sächsisch erklärt. Andere machen sich die Hände gerne schmutzig. Klaus Esser etwa, der Mannesmann verscherbelt hat, weil Vodafone ihm mit einer Abfindung von 15 Millionen Euro gewunken hat. Oder Gewerkschafter vom Schlage eines Klaus Zwickel, die das alles durchgewunken haben. Oder die Betriebsräte von VW, die mal eben mit Edelprostituierten für 30.000 Euro auf die Andamanen geflogen sind und sich allenfalls noch darüber beklagt haben, dass diese keinen Sex ohne Kondome wollten. Die zeigen uns, wie's geht. Die geben nicht nur auf der Autobahn Gas.

»Frage dich nicht, was die anderen für dich tun können,«, sagt mir ein Chirurg mit Mundschutz im Spot, wobei ich annehme, dass er keiner der Ärzte ist, die monatelang ohne Gegenleistung Praktika absolvieren müssen, um wenigstens den Hauch einer Chance auf einen Job zu haben. Ach so, denke ich, dann ist es wohl nicht so, dass die Fernsehintendanten daran schuld sind, dass seit Jahren immer schlechtere, oberflächlichere und verdummendere Programme gesendet werden und trotz Finanzierung aus Gebühren der Bildungsauftrag zugunsten der Quote und der Eitelkeit gegenüber dem Privatfernsehen oder -radio vergessen wird. Wahrscheinlich bin ich daran schuld, in dem ich überhaupt noch einschalte. Ich – nicht »Das Erste« oder »Das Zweite«. Denn die sind auch dabei, bei »Du bist Deutschland«.

So wie fast alle dabei sind. Die Reinholds, Sandras und Ullis, beziehungsweise Beckmanns, Maischbergers und Wickerts. Die gehen beneidenswert lässig mit all dem um: mit Arbeitsplatz- und Sozialabbau. Mit steigenden Preisen, sinkenden Reallöhnen und schlechter werdenden Bildungsangeboten. Fühlt sich vielleicht auch vor dem Hintergrund millionenschwerer Werbe- oder Honorarverträge irgendwie anders an. Aber der kleine, aufmunternde Klaps ist bestimmt gut gemeint. »Du bist die Hand. Du bist 82 Millionen«, sagt Oliver Kahn. Schön auch, dass Michael Schumacher mitmacht, der zwar seit Jahren keine Steuern in Deutschland zahlt, so aber immerhin doch hilft, Mut zu machen.

Den werden wir auch brauchen. Vor allem, um »Du bist Deutschland« zu überstehen.