21.12.05

Stefan Schrahe

Mein Vater und der Weihnachtsbaum

Es ist jedes Jahr das selbe. Schon, als wir noch an das Christkind geglaubt hatten, in unseren Zimmern im ersten Stock ausharren mussten und gespannt auf das Klingeln der Glocke warteten, die uns endlich erlaubte, nach unten zu gehen. Wo uns dann unsere Mutter und unser Vater erwarteten in einem Wohnzimmer, das – nur durch den Schein etlicher Kerzen beleuchtet und mit einer Aura noch verborgener Geschenk-Geheimnisse versehen – so vollkommen anders wirkte als an jedem anderen Tag.

Weihnachten war der Höhepunkt des Jahres. Alle Wünsche konzentrierten sich auf diesen einen Tag und dieses eine, jetzt so fremdartige Zimmer mit seinem festlich geschmückten und beleuchteten Mittelpunkt. Und jeder, der das Zimmer betrat, fragte sich als erstes, wo mein Vater diesen furchtbar spirreligen, mageren und krumm gewachsenen Weihnachtsbaum her hatte.

Mein Vater ist für die Beschaffung des Weihnachtsbaums zuständig. Schon immer gewesen. Er ist kein Mann, der solche Dinge in letzter Minute erledigt. Er lässt sich Zeit – spätestens eine Woche vor dem Fest geht er auf die Suche – und ich bin sicher, dass er sorgfältig prüft und abwägt. Jedenfalls ist das ansonsten seine Art. Den Baum unter dem Arm, dessen Äste in einem Netz eingezwängt sind, kommt er stolz von seiner Einkaufstour zurück und während der Baum, mit abgesägtem Stumpf in einem Eimer Wasser seine letzten Adventstage verbringt, rätseln wir – die ihn in seiner ganzen Pracht noch nicht haben sehen dürfen – was uns wohl diesmal erwartet: ein mickriges Tannenbäumchen, dessen spärlicher Bewuchs vor allem Mitleid aufkommen lässt oder eine schiefgewachsene Fichte, die bereits an Heiligabend mehr Nadeln verlieren wird als an den Zweigen verbleiben.

Der Baum ist ein heikles Thema, das an diesen für familiäre Dissonanzen so sensiblen Tagen größtes diplomatisches Geschick verlangt. Schon als meine Kinder noch sehr klein waren, konnte ich ungläubiges Staunen in ihren Augen erkennen, wenn der Großvater bestätigt haben wollte, in diesem Jahr einen besonders prächtigen Baum erstanden zu haben. Sie überließen das Thema uns Erwachsenen. »Er hätte vielleicht oben auch noch ein paar Äste haben können«, habe ich dann schon mal gesagt. Oder meine Schwester hat festgestellt, dass der Baum, wenn man ihn vom Esszimmer aus gegen das Fenster betrachte, fast aussehe, als sei er gerade gewachsen. Und meine Mutter hat auf die Nützlichkeit ihres Akku-Staubsaugers hingewiesen, mit dem man alle halbe Stunde die frisch gefallenen Nadeln mal eben beseitigen könne. Deutlicher wurden wir nie. Mein Vater erschien so verletzlich in jenen Augenblicken, dass wir uns das nie gewagt hätten.

Nicht, dass ich den Verdacht hegen würde, er sei geizig. Das ist es nicht. Er hat jedes mal den Preis bezahlt, den man für einen anständigen Weihnachtsbaum zahlen muss. Aber er scheint die Bäume mit anderen Augen zu sehen als der Rest der Menschheit. Er sieht in ihnen etwas, das uns verborgen bleibt.

Als ich meine ersten Weihnachtsbäume gekauft habe, wollte ich alles anders machen. Erfreute mich an den kerzengerade gewachsenen Blaufichten, die sich bis an die Decke unserer Altbau-Wohnung reckten oder den stämmigen Nordmann-Tannen, die ohne das geringste Anzeichen von Schwäche bis in die zweite Januarwoche tapfer Weihnachtskugeln, Holzsterne und Stoff-Schleifchen trugen. Aber all das ließ meinen Vater völlig unbeeindruckt. Jahr für Jahr nahm er das betretene Schweigen hin, das sich in den ersten Sekunden ausbreitete, nachdem der neue Baum der Öffentlichkeit präsentiert worden war. Und wenn er nur für wenige Minuten den Raum verließ, gab es kein anderes Thema, als die Spekulation darüber, wie man ausgerechnet an einen solchen Baum geraten könne.

Erklärt hat es mir mein Sohn. »Der Opa sucht sich die Bäume aus, die sonst keiner haben will«, hat er gesagt. Und plötzlich hatte ich verstanden. Konnte nachvollziehen, wie es sein muss – als von der Natur nicht gerade mit ebenmäßiger Schönheit ausgestatteter Baum – Tage oder Wochen auf Supermarkt-Parkplätzen oder in Fußgängerzonen in der Gesellschaft lauter Bilderbuch-Bäume verbringen zu müssen. Begleitet von Glühwein- und Maronenduft, dudelnder Weihnachtsmusik und dem immer stärker werdenden Gefühl, wohl nie zum Subjekt jenes stolzen Lächelns zu werden, welches auf den Gesichtern der Männer und Frauen zu sehen ist, die schließlich – nach ausgiebiger Begutachtung – einen dieser Vorzeige-Bäume auf dem Dachgepäckträger ihres Mittelklasse-Kombis verzurren. Wie es ist, nie erwählt zu werden.

Bis mein Vater kommt. Und sich genau jenen Baum aussucht, der schon damit gerechnet hatte, noch vor Anbruch des neuen Jahres zu Sägemehl verarbeitet zu werden. Mein Vater, der genau diesen Baum mit dem gleichen Stolz nach Hause fährt, der so oft immer nur den anderen Bäumen gegolten hatte und der ihn am Nachmittag des Heiligabends auch noch festlich schmückt, mit Lichtern behängt - ja, sogar zum unumstrittenen Mittelpunkt des Weihnachtszimmers macht und ihm so einen letzten, glanzvollen Auftritt verschafft, wie er ihn sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.

Wenn man es so sieht, hat sich mein Vater all die Jahre für den richtigen Baum entschieden.