21.12.08

Stefan Schrahe

Das Sakko

Als ich den Aufzug betrete und in den Spiegel schaue, bekomme ich einen Schreck. Unübersehbar beschreibt der Stoff meines Sakkos zwischen beiden Knöpfen eine gekrümmte Linie. Und beim Einatmen spüre ich plötzlich, wie die Jacke spannt. Sicherheitshalber fülle ich meine Lungen nicht vollständig, sondern breche bei etwa 80 Prozent ab.

Ich bin fassungslos. Erst am Tag vorher hatte ich auf der Waage freudig registriert, bereits vier Kilo abgenommen zu haben. Drei Monate Fitness-Studio, sklavisch den Rhythmus von zwei Besuchen pro Woche einhaltend, schienen sich endlich gelohnt zu haben. Selbst meiner Mutter war am Wochenende aufgefallen, dass die Wölbung meines Bauches zurückgegangen war. Und vor Freunden hatte ich die letzten drei Monate als Erfolgsstory verkauft. Die mir vorher kaum jemand zugetraut hatte.

Und jetzt passt dieses Sakko, das sich noch am Morgen problemlos zuknöpfen ließ, nur noch unter Spannung. Mit angehaltenem Atem warte ich, bis der Fahrstuhl das Erdgeschoß erreicht. Atme, unten angekommen, vorsichtig aus. Entspanne mich, lasse locker und registriere, wie der Bauch das Garn der Knöpfe an den Rändern der Knopflöcher zum Zerreißen dehnt.

Wie konnte das passieren? Der Adventskalender fällt mir ein, der auf meinem Schreibtisch steht. Nicht geöffnete Türchen, bedingt durch die Dienstreise von letzter Woche und das Wochenende hatte ich in Form von fünf über den Tag verteilten Schokoladenstückchen nachgeholt – inklusive des Türchens von heute. Sicher ein kleiner Rückfall, aber eine Erklärung für messbare Zunahme? An die Ente von heute Mittag muss ich denken. Normalerweise esse ich beim Asiaten seit Monaten eher Hühnchen und Tofu, aber heute hatte ich mir Ente gegönnt. Sicher – eine große Portion und – klar – Ente gehört nicht unbedingt zu den Gerichten, die sich für die kalorienbewusste Ernährung empfehlen. Aber können Schokolade und Ente meinen Bauchumfang innerhalb weniger Stunden wachsen lassen? Und wenn das so ist: Werde ich dann für alle Zeiten weiter schwitzen, Gewichte stemmen und trainieren müssen? Nur, um bei dem einen Stückchen Christstollen zu viel nicht sofort sichtbar an Umfang zuzunehmen?

Nachdenklich gehe ich ins Parkhaus, habe die Knöpfe des Sakkos längst geöffnet. Der Anlass für meine Wende zum gesünderen Leben kommt mir in den Sinn. Mein damals 22-monatiger Sohn hatte, auf dem Wickeltisch sitzend, mit dem Finger auf meinen Bauch gedeutet und laut »Ball« gesagt. Ich hatte mir geschworen, dass er das nie wieder zu mir sagen würde. Ich habe sogar dieses Jahr auf meine heiß geliebten Dominosteine verzichtet.

Missmutig setze ich mich ans Steuer, fahre nach Hause. Was nützt alle Anstrengung, wenn jede kleine Verfehlung gleich so fürchterlich bestraft wird? Wie können wir uns über Erreichtes freuen, wenn uns doch schon beim geringsten Nachlassen wieder alles zwischen den Fingern zerrinnt?

Über den dicksten Mann der Welt hatte ich gelesen: einen Mexikaner, der über 500 Kilo wog, mittlerweile aber 140 Kilo abgenommen hat. Dabei von permanentem Hungergefühl und der Versuchung, der Versuchung nachzugeben geplagt wird. Der Arme kann sich der Schar neugieriger Pressefotografen kaum erwehren. Ich werde wohl den Adventskalender wegschmeißen müssen und nie mehr Ente essen dürfen, sonst werde auch ich irgendwann das Opfer voyeuristischer Paparazzi. Die Weihnachtsgans kann ich auch vergessen. Und die Trainingsfrequenz werde ich auf dreimal pro Woche erhöhen müssen.

Als ich zu Hause ankomme, begrüßt mich meine Tochter:

»Ein Kollege von Dir hat angerufen. Ob Du aus Versehen sein Sakko angezogen hast.«

Die Steine, die mir vom Herzen fallen, werden bestimmt beim nächsten Gang auf die Waage zu Buche schlagen. Mein Glaube an das Gute in der Welt ist wieder hergestellt. Die Türchen im Adventskalender müssen nicht für immer geschlossen bleiben. Und einmal Ente ist vor Weihnachten bestimmt noch drin.