24.03.05

Stefan Schrahe

Die Organisation

Jeder hat schon mal einen Regenschirm verloren. Und sich dann einen Neuen gekauft. Also müsste es eigentlich mehr Regenschirme als Menschen geben – jedenfalls in unseren Breitengraden.

Nehmen wir mal mich: Ich bin jetzt zweiundvierzig Jahre alt und habe in meinem bisherigen Leben schätzungsweise fünf Regenschirme verloren. Nie aber habe ich einen herrenlosen Regenschirm mitgehen lassen. Fünf Regenschirme müssten also von mir irgendwo in der Welt herumstehen. Hat man aber je von riesigen Regenschirmauktionen gehört, quellen die Schirmständer in Cafes, Theatern oder Restaurants über von Schirmen ohne Besitzer?

Die Frage ist doch: Wo sind all die Schirme geblieben? Gibt es konspirative Organisationen von Regenschirmaufsammlern, die durch die Straßen fahren und Ständer von Cafes und Restaurants nach stehen gelassenen Regenschirmen durchsuchen, diese einstecken und zu geheimen Regenschirmlabors transportieren, um sie dort im Verborgenen einer Überarbeitung zuführen? Andere Logos aufdrucken, die Farbe des Knaufes verändern, die Bespannung auswechseln? Um sie dann wieder als neue Regenschirme zu verkaufen, so dass man theoretisch wieder in den Besitz des eigenen, verloren gegangenen Regenschirms kommen kann ohne davon das Geringste zu ahnen? Vielleicht kriegen ja sogar die Restaurants, Kinos oder Theater Provisionen, wenn sie Schirmständer aufstellen. Oder viel schlimmer: sie müssen die Ständer aufstellen, weil sie sonst von der Regenschirmmafia erpresst werden.

Heute wäre es mir fast wieder passiert. Ich hatte das Cafe schon verlassen, stand aber noch davor. Irgendetwas fühlte sich plötzlich anders an als vorher. Es war eine der Situationen, die für Regenschirmbesitzer besonders kritisch sind; einer jener Tage, an denen die Banden von Regenschirmeinsammlern wahrscheinlich besonders aktiv sind: Die Tage nämlich, an denen es fortwährend so aussieht, als ob es regnet, aber nicht anfängt. An denen man den Schirm zwar mitnimmt, aber nicht braucht, was das Risiko ihn anschließend zu vergessen, in ungeahnte Höhen treibt.

Ich stand also vor dem Cafe, überlegte, was anders war und plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz. Meine linke Hand fühlte sich so leer an. Das hatte sie vorher nicht getan, da hatte sie irgendetwas ständig fest umklammert. Den Regenschirm! Ich drehte mich auf dem Absatz um, lief die Eingangstreppe hoch, öffnete die Tür und stieß mit einem älteren Herrn zusammen, während ich den Schirm aus dem Ständer holte.

»Das ist normal«, war dessen einziger Kommentar, was mich darin bestärkte, dass ich kein Einzelfall, sondern nur eine winzige Masche in einem den Globus umspannenden Netz von Regenschirmvergessern bin, die dafür sorgen, dass die Regenschirmeinsammler ständig was zu tun haben. Vielleicht war der ältere Herr sogar einer von ihnen? Kaum kam mir dieser Verdacht – ich hatte das Cafe bereits wieder verlassen – da drehte ich mich auch schon um, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Aber von dem Regenschirmeinsammler, wahrscheinlich ein kleiner Fisch, ein Rentner, der sich nebenbei seine Bezüge mit ein paar Regenschirmgaunereien aufbesserte, war nichts mehr zu sehen...

Sie glauben nicht dran? Denken sie doch mal einen Moment nach. Könnte es einen besseren Beweis für die Raffinesse geben, mit der die Regenschirmmafia im Verborgenen ihren dunklen Geschäften nachgeht, als den, dass Sie noch nie davon gehört haben?

Die Aufhebung privaten Regenschirmbesitzes, so kam mir in den Sinn, wäre die einzige Möglichkeit, diesen Herren das Handwerk zu legen. Ein standardisierter Regenschirm müsste entwickelt werden, der gegen Vorlage des Personalausweises ausgegeben würde – für jeden Bürger genau einen. Mit diesem Regenschirm könnte man dann losziehen und ihn, wenn es nicht mehr nach Regen aussieht, einfach irgendwo abstellen. Überall stünden Regenschirme herum, unnötig so lange der Himmel blau ist, aber sofort griffbereit, wenn dunkle Wolken aufziehen. Der private Handel mit Regenschirmen und das ganze kriminelle Unwesen drumherum würde im Nu zusammenbrechen, weil ja der Anreiz, einen neuen Schirm zu kaufen, fehlen würde. Das Ganze könnte von Sponsoren finanziert werden, die ihre Logos auf dem volkseigenen Regenschirm abdrucken dürften. Kein Spaziergang bei wolkenverhangenem, aber wasserdichten Himmel würde mehr durch unnötigen Ballast in der linken Hand gestört, kein tagelanges, aber meist vergebenes Nachdenken wäre mehr nötig darüber, »wo ich denn den Schirm stehen gelassen haben könnte«. Wenn es regnet, greift man sich einfach den nächsten.

Wenn das Modell funktioniert, könnte man es auch erweitern. Auf Schals oder Handschuhe zum Beispiel. Da habe ich auch das Gefühl, dass da irgendetwas im Verborgenen geschieht, von dem man auf den ersten Blick nichts ahnt.

Letztens habe ich Schal und Handschuhe vermisst. Mit viel Nachdenken und minutiösem Rekonstruieren meiner Aktivitäten – teilweise mit Hilfe mehrerer Digitalfotos – konnte ich beides nur in einem Weimarer Cafe liegen gelassen haben. Ich rief dort an und hatte gleich das Gefühl, dass man überrascht war, dass sich jemand nach dem Verbleib seiner liegen gebliebenen Gegenstände erkundigte. Jedenfalls erklärte man sich meiner Meinung nach etwas zu schnell dazu bereit, mir beides zuzuschicken. Vielleicht, damit ich kein Aufhebens machen und nicht merken sollte, auf welche Spur ich da gestoßen war. Mir kam das jedenfalls sehr verdächtig vor.