29.05.06

Stefan Schrahe

Der Duft von Maiglöckchen

Ich solle doch mal eine Frühlingsgeschichte schreiben, hatte man mir gesagt. Über den Duft von Maiglöckchen. Das passe doch jetzt in die Jahreszeit. Der Duft von Maiglöckchen. Und das ausgerechnet mir. Wo mich Maiglöckchenparfüm überhaupt nicht anmacht. Ich muss dabei immer an meine Oma denken. Und von Pflanzen habe ich erst recht keine Ahnung. Aber dafür nur noch ein paar Tage Zeit. Irgendwas muss mir einfallen.

Nach einer Woche noch nichts. Keine brauchbare Geschichte. Nicht einmal der Ansatz einer Idee. Anscheinend haben mir die Maiglöckchen schon vor dem ersten Wort das Hirn blockiert. So kann's nicht weitergehen. Vielleicht ist die Ursache der Blockade ja, dass ich gar nichts über Maiglöckchen weiß. Aber das kann man ändern. Per Suchmaschine gehe ich im Internet auf die Jagd nach Maiglöckchen. Schon nach wenigen Klicks bin ich Experte. Die »Convallaria majalis« ist ein uraltes Glücks- und Liebessymbol. Ihr Weiß steht für die Reinheit, das Grün für die Hoffnung – deswegen fehlt sie auch in keinem Brautstrauß. Angeblich ist sie dort entstanden, wo Maria neben dem Kreuz die Tränen vergoss. Da müsste einem doch eigentlich was zu einfallen. Ist anderen schließlich auch schon. Heinrich Heine hat geschrieben, der Duft der Maiglöckchen »bricht das Eis des Winters und der Herzen«. Aber ich bin nicht Heinrich Heine. Ich zerbreche mir nur den Kopf.

Auf einer anderen Internetseite erfahre ich, das Maiglöckchen sei die Modepflanze der Jahrhundertwende gewesen. Also doch Oma-Parfüm. Und auch Hoffmann von Fallerslebens »Maiglöckchen läutet in dem Tal« inspiriert mich nicht wirklich. Mit reiner Liebe ruft Maiglöckchen mich nicht. Ein paar Klicks weiter auf der Hausmedizinseite: Das Maiglöckchen ist auch Heilpflanze. Schon bei Hildegard von Bingen erwähnt. Hilft bei Schwindel, Fallsucht und Augenleiden. Auch bei verlorener Sprache. Vielleicht sollte ich es mal mit einem Maiglöckchen-Tee versuchen. Seine herzstärkende Wirkung ist seit Jahrhunderten bekannt, lese ich. Die Ärzte des Humanismus wählten es deshalb als ihr Berufs-Emblem. Und auch eine andere Wirkung ist mir neu: wenn man sich mit Maiglöckchen das Gesicht abreibt, sollen die Sommersprossen verschwinden. Glaubte man jedenfalls früher. Da ich keine habe, kann ich das nicht ausprobieren.

Weiter geht die Suche: botanische Zuordnung. Früher hat man die Maiglöckchen zu der Familie der Liliengewächse gezählt. In England heißen sie deshalb heute noch »Lily of the valley.« »Lily of the valley« – das klingt nach Western, nach: »They call me the white rose.« Sehr romantisch. Bringt mich aber auch nicht weiter.

Aber da habe ich endlich was: Maiglöckchen sind nämlich auch gefährlich. Das arme, unschuldige Glücks- und Liebessymbol hat es faustdick hinter den Blättern. Die Wirkstoffe der roten Beeren ähneln denen des Fingerhuts. Bauchschmerzen, Erbrechen, Übelkeit und Herzrhythmusstörungen können die Folge des Verzehrs sein, warnt der Giftnotruf Berlin auf seiner Homepage. Na ja, die Liebe hat ja manchmal ähnliche Nebenwirkungen, denke ich, insoweit passt das wieder. Ich versuche, aus dieser geistreichen Analogie wenigstens ein paar Verse zu drechseln – aber vergeblich.

Der kleine Strauß Maiglöckchen, der seit zwei Tagen neben meinem Computer steht, hat bisher auch nichts genützt. Ebenso wenig wie die Gartentipps. Dass Maiglöckchen sich wie die Quecken vermehren, schattige Standplätze lieben, sich für begehbare Flächen eignen, weil sie Tritte ohne weiteres akzeptieren, vervollständigt zwar mein Wissen, regt aber nicht meine Kreativität an. Und der Gefahr, sie mit Bärlauch zu verwechseln, bin ich nicht ausgesetzt, weil ich nicht weiß, wie Bärlauch aussieht. Ich gebe auf.

Rettung bringt das Autoradio. Auf dem Weg zur Arbeit werden Tage später die neuesten Erkenntnisse von Biologen der Universitäten von Dortmund und Los Angeles verkündet. Ich kann kaum glauben, was der Sprecher erzählt:
»Spermien laufen offenbar beim Geruch von Maiglöckchen zu Höchstform auf. Wie das Magazin ›Science‹ berichtet, sausen die Samenzellen doppelt so schnell in Richtung Eizelle, wenn sie den Duftstoff Aldehyd Borgeounal wahrnehmen. Andere Duftstoffe hingegen machen Spermien orientierungslos.«
Meine Orientierungslosigkeit ist erstmal beseitigt. Das interessiert mich. Am nächsten Internet-Terminal rufe ich die Homepage des Wissenschafts-Magazins auf. Was ich dort lese, verschlägt mir fast die Sprache: Spermien haben einen Riechrezeptor, wie man ihn sonst nur in der Nase findet, schreibt Professor Hatt von der Universität Dortmund. Nach der strapaziösen Reise der Spermien durch den unendlich langen Eileiter sei deren Spürnase für die Kurzstreckenführung zur Eizelle hin gefragt. Die Substanzen Bourgeonal und Zyklamal, aus denen man den Duft von Maiglöckchen industriell imitiert, steuerten dabei nicht nur die Richtung, sondern verdoppelten sogar den Schwanzschlag der Samenzellen. Diese neuen Erkenntnisse will man sowohl zur Behandlung von Unfruchtbarkeit als auch zur hormonfreien Empfängnisverhütung nutzen. »Man kann den Spermien sozusagen die Nase zu halten und sie dadurch am Auffinden der Eizelle hindern«, wird Professor Hatt zitiert.

»Maiglöckchen läutet in dem Tal«. Das Gedicht von Fallersleben hat plötzlich eine viel tiefergehende Bedeutung, als ich erst angenommen hatte. Und hat Heinrich Heine auch irgendwas geahnt? Ich schalte den Computer aus, werfe einen Blick auf die Maiglöckchen in der Vase und versuche mir vorzustellen, wie meinen Spermien die Nase zugehalten wird. Ich bin sicher: jetzt wird mir irgendwas einfallen.