Diese Kolumne lässt sich auch hören!

»Ein Foto für Justitia« vorgetragen von Annik Rubens
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

15.11.07

Elke Schröder

Ein Foto für Justitia

Neulich bei einem Blick aus dem Bürofenster sah ich ihn kommen: Simon Urhahn, ein Hüne von etwa 3 Metern Höhe mit kantigem Schädel und Händen wie Dessertplatten. Wie immer barfuß, Bier trinkend und – dem bewegten Mienenspiel nach zu urteilen – in ein polemisches Selbstgespräch verwickelt. In der rechten Hand eine zerschlissene Alditüte, auf dem Kopf einen zum Hut zurechtgeschnittenen Regenschirm, an dessen Speichen Zettelchen mit den Aktenzeichen der gegen ihn laufenden Ermittlungsverfahren befestigt waren. Einige der Aktenzeichen hatte er durchgestrichen, andere mit einem roten Ausrufezeichen versehen. Kurz vor dem Eingang blieb er stehen, strich sich das wirre schwarze Haar aus der Stirn und drehte solange an seinem Hut, bis er das gewünschte Zettelchen gefunden hatte. Er riss es ab und hielt es sich mit ausgestreckten Armen vors Gesicht. Dies war der Augenblick, in dem nicht nur ich, sondern auch die Kollegen aus den gegenüberliegenden Büros zu ihren eigens für diesen Zweck angeschafften Ferngläsern griffen und versuchten, einen Blick auf das Aktenzeichen zu erhaschen. Was nicht ganz einfach war, weil Simon Urhahn infolge seines Alkoholkonsums schwankte.

Durch mein Okular sah ich Oberstaatsanwalt Kleewind, der am Fenster klebte, die Augen an sein hochleistungsfähiges Nautikfernglas gepresst, das durch einfachen Knopfdruck auch bei bewegter See und schwankendem Boot ein ruhiges Bild garantiert. Nach Sekunden traten Schweißperlen auf seine Stirn. Offenbar fiel das von Urhahn gewählte Aktenzeichen in seinen Zuständigkeitsbereich. Kleewind warf das Fernglas beiseite, eilte zur Tür und verschloss sie sorgfältig von innen. Dann patrouillierte er ruhig und gelassen vor dem Fenster hin und her, bevor er sich schließlich auf die Jalousie stürzte und sie mit der Miene eines Mannes herunterkurbelte, der gerade erkannt hatte, dass er nicht am, sondern im Lagerfeuer stand.

Nun treibt sich normalerweise allerlei Volk bei der Staatsanwaltschaft herum. Die harmlos anmutende Hausfrau, die auf ihrem Fahrrad bis vor den Eingang fährt, schweigend ein paar Runden dreht und dann ganz plötzlich lautstark auf die lasche Justiz, Angela Merkel und überteuerte Nackenkoteletts zu schimpfen beginnt. Der sanftmütige Witwer, von dem niemand genau weiß, wann er eigentlich damit anfing, der Sonderabteilung für organisierte Kriminalität bei den Ermittlungen zu helfen. Inzwischen ist man an sein Erscheinen und die zahlreichen Schriftsätze gewöhnt, die er täglich in seiner großen braunen Aktentasche heranschleppt. Eine zweite schaffte er sich an, als Staatsanwalt Prybill ihm für jahrelange treue Dienste via amtlich beglaubigter Urkunde den Titel »Freier Ermittler« verlieh. Das mag unüblich sein, durchaus, aber wir sind eben höflich. O-Ton Prybill. »Särr 'öfflich!«, findet es auch Madame Zizou, eine hagere Französin, dass sie sich alle zwei Wochen mit verbundenen Augen vor den größten Laser-Drucker der Behörde setzen darf, um an ihre Gratis-Dosis ionische Strahlen zu gelangen. Man kümmert sich um die wiederkehrenden Besucher, hält sie in Schach, gibt ihnen, was sie wollen. Bei Simon Urhahn funktioniert das nicht.

Bei einem seiner letzten Besuche reagierte er auf das wohlmeinende Angebot der Rechtspflegerin, seine Geldstrafen durch freie gemeinnützige Arbeit zu tilgen, mit einem hohen, lang gezogenen Schrei, der durch vier Flure bis in die Damentoilette hallte. Ich weiß das, weil ich mich gerade dort aufhielt. In der Nebenkabine hatten sich die Staatsanwälte Klaas und Brombach verschanzt.

»Er hasst gemeinnützige Arbeit«, flüsterte Klaas. Ein Klodeckel wurde hochgeklappt.
Brombach seufzte. »Woher soll die neue Rechtspflegerin das wissen? Es ist ihr erster Arbeitstag.«
Aus dem Flur drang leichter Brandgeruch.
»Riechst du das?«
»Hm, sicher nur ein Papiereimer.«
»Meinen hat er mal angezündet und mir über den Kopf gestülpt.«
Brombach lachte grimmig. »Sei froh, dass er vorher nicht reingepinkelt hat.«
»Du meinst – bei dir hat er…?«
»Hat er«, kam es knapp zurück.
Von draußen waren dumpfe Schläge zu hören. Schwere Möbel kippten um. Eine überschnappende Stimme rief nach den Wachtmeistern.
»Dabei geht's uns ja noch gut«, sagte Klaas »Vor zwei Wochen hat er den Gerichtsvollzieher auf seine Wäscheleine gespannt.«
»Das geht doch gar nicht!«
»Er hat eine spezielle aus zusammen gedrehten Seilen und groß dimensionierten Karabinern.«
Brombach – nach einer Pause: »Dann war die Pfändung wohl fruchtlos?«
»Das ist doch jetzt völlig irrelevant, Thomas!«
»Du hast Recht. So kanns nicht weitergehen. Warum lassen die den Spinner überhaupt noch hier rein? Er darf das Dienstgebäude doch gar nicht mehr betreten.«
Leises Plätschern drang an mein Ohr.
»Weil sie an der Info immer noch kein Foto von ihm haben.«
»Ich bitte dich! Er ist halb Mensch, halb Fels. Und an diesem dämlichen Hut erkennt ihn doch wohl jeder Blöde.«
»Gertrud sitzt am Schalter. Aber sag mal, Jochen, musst du ausgerechnet hier pinkeln?«

Gertrud saß auch neulich am Schalter. Ich bemerkte es daran, dass Simon Urhahn nicht Minuten nach seinem Erscheinen den Rückzug antrat. Sie hatte ihn durch gewunken. Trotz Regenschirmhut. Gertrud würde auch eine Cruise Missile durchwinken, wenn man ihr erklärte, es handele sich dabei um einen hochmodernen aufblasbaren Füllfederhalter.

Mit einer Polaroidkamera bewaffnet verließ ich mein Büro und betrat den noch ruhigen Flur. Wie ich mit kurzem Blick bemerkte, war der birnenförmige Fleck auf dem Teppich vor dem Nebenzimmer größer geworden. Hier fanden die morgendlichen Besprechungen statt. Vor dieser Bürotür stießen die Arme des Gesetzes mit ihren Kaffeetassen zusammen. Hinter ihr war man eifrigst damit beschäftigt, mittels geistreichen Wortwitzes und lateinischer Bonmots die ubiquitäre Distanz zum Fußvolk zu markieren. Ich überlegte kurz, anzuklopfen und Urhahns Ankunft anzukündigen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Genauso gut hätte ich als Waran verkleidet in einen überfüllten Pool steigen können.

Es dauerte nicht lange, bis Urhahn am anderen Ende des Flurs erschien, von dem zwei weitere abzweigten. Lange betrachtete er das Hinweisschild an der Wand, wiegte nachdenklich den Kopf hin und her, bevor er es kurzerhand abriss und gegen die Fensterscheibe schmiss. »Soviel zu eurer beschissenen Orientierungshilfe!«, schnaubte er. Aus seiner Alditüte kramte er eine Flasche Bier hervor und öffnete sie schneller mit den Backenzähnen, als ich »Moin« sagen konnte. Unvermittelt dachte ich an Weihnachten, leuchtende Kinderaugen und die Tatsache, dass Urhahn laut Aktenauskunft bald Vaterfreuden entgegensah. Er trank flott, rülpste ausgiebig und wandte sich in meine Richtung. Kaum hatte er mich und meine Polaroid erblickt, ließ er die Alditüte fallen und stürmte los, dass die Zettel an seinem Hut nur so flatterten. Ich drückte beherzt auf den Auslöser der Kamera, drehte mich um und sauste zurück in mein Büro. Gerade, als ich den Schlüssel von innen umdrehte, hörte ich, wie nebenan die Tür geöffnet wurde und sich die Kaffeerunde fröhlich schwatzend auf den Flur ergoss. Die nachfolgende Stille war beklemmend, kam mir aber gerade recht, das Sondereinsatzkommando anzurufen. Als der Sturm losging und der erste Körper von außen gegen meine Tür geworfen wurde, war ich schon längst aus dem Fenster verschwunden.

Noch sitzt Simon Urhahn seine dreimonatige Haftstrafe ab. Aber er wird wiederkommen. Mein Foto, das ihn rennend zeigt, klebt in der Info, genau vor Gertruds Nase. Sie studiert es jeden Tag und hofft, es bald geschafft zu haben, ihn sich auch stehend vorzustellen.