15.06.03

Philipp Seidel

Der Abend, an dem ich den Rock'n'Roll neu erfand

Die Vögel lassen sich nicht beeindrucken von der Anwesenheit der Band. Keine Spur leiser als sonst pfeifen und zwitschern sie, als sei nichts. Dabei hätten sie beim Überflug über das Olympiastadion sehen können, daß Großes ins Haus steht. Wenn Bon Jovi spielen, kann man doch mal für ein paar Stunden schweigen und lauschen und sich langsam in die heiteren und schmerzvollen Tage der Jugend zurücktragen lassen. Die Ameisen machen schließlich auch keinen Lärm.

18 Uhr – Ich sitze auf dem Balkon und warte auf Bon Jovi. Die Band kommt nicht zu Kaffee und Kuchen vorbei; sie spielt im Olympiastadion. Das Warten wäre vollends müßig, wenn mein Balkon und das Olympiastadion nicht Nachbarn wären. Ich bin bestens vorbereitet auf das Konzert, habe eben noch einen Kasten Bier geholt und die bunte Hose angezogen, mit der man außer auf den Balkon nirgends hingehen kann. Habe ich ja auch nicht vor. Ich sitze auf dem Balkon und warte auf Bon Jovi.

Letzte Woche waren die Rolling Stones hier. Die wollte ich eigentlich gar nicht hören. Aber sie waren so laut, daß man sie nicht überhören konnte. Ich hatte aber auch nicht den Mut, hinzugehen und sie zu bitten, etwas leiser zu spielen.

19 Uhr – Eben war kurz zu hören, daß sich auf der Bühne irgendwas abspielte. Was das war, konnte man aber nicht hören. Vielleicht war die Information in der Zeitung falsch, daß es schon so früh losgeht? Hatte man etwa Einlaß- und Anfangszeit verwechselt?

Vorhin bin ich am Stadion vorbeiradelt. Vor dem Eingang standen schon etwa 5.000 gute Gründe, Rockstar zu werden. Einige hatten ihre Freunde mitgebracht. Hätte man die Oberbekleidung aller Damen zu einem einzigen Stück Stoff zusammengenäht, man wäre kaum auf die Größe eines Taschentuchs gekommen. Es muß deprimierend sein, seine Freundin zu einem Bon-Jovi-Konzert zu begleiten, weil man an dem Abend ja nun überhaupt nichts zu melden hat. Vermutlich betrinken sich die Männer an der Bar, während ihre Freundinnen der Band ihre Taschentuch-Fragmente hinhalten.

19.40 Uhr – Es gibt Probleme mit der Akustik. Die Vögel sind zu laut, die Flugzeuge sind zu laut, die Nachbarn sind zu laut. Alle sind zu laut. Es ist noch zu früh für ein Konzert; die Welt erledigt noch Alltagsgeschäfte und übertönt damit die Band. Wie kann ein Konzert auch nur so früh anfangen? Ist das etwa Rock'n'Roll, wenn man zur "Tagesschau" schon wieder im Hotel ist und sich von den Groupies die Horoskope übersetzen läßt?

19.45 Uhr – Weil die Ohren nichts zu tun haben, wird das Hirn aktiv und führt die Phantasie ein wenig spazieren. Das Konzert hat so früh begonnen, daß die Menschen eben erst vom Einkaufen gekommen sind. Bilder tauchen auf von Hausfrauen, die mit Plastiktüten in der einen, ihre fünfjährige Tochter an der anderen Hand im Publikum stehen und laut mitsingen.

19.50 Uhr – Immer noch nichts zu verstehen. Zum zweiten Mal macht sich die Frage an mich heran: Ist das etwa Rock'n'Roll, wenn man nicht mal in dreihundert Metern Entfernung etwas hören kann? Waren die Rolling Stones vielleicht nur so laut, weil sie nach all den Jahren etwas schwerer hören?

Man weiß es nicht. Ist auch egal jetzt. Ich marschiere in den Biergarten. Ich kann ja in der Zeitung lesen, wie das Konzert war. Das ist Rock'n'Roll: Mit einer Maß im Biergarten zu sitzen, während zu Hause Bon Jovi spielt.