06.07.04

Bastian Sick

Kasus Verschwindibus

In der Schule lernen wir, dass die deutsche Sprache vier Fälle hat. Später aber stellen wir fest, dass es noch einen fünften geben muss: den unsichtbaren Fall, auch Kasus Verschwindibus genannt. Man findet ihn zum Beispiel am Ende des Barock und beim US-Präsident.

Sommerzeit ist Sauregurkenzeit, da muss schon mal der eine oder andere Veteran hervorgezerrt werden, um die Spalten einer Zeitung zu füllen. Und so darf man sich endlich auf Neues über Niki Lauda freuen, denn SPIEGEL ONLINE verspricht ein Interview »mit dem Formel-1-Veteran«.

Mit dem Formel-1-Veteran? Fehlt da nicht etwas? Ich zeige den Satz einem Kollegen, der nimmt einen Stift und quetscht ein »Ex-« vor »Formel-1-Veteran«. Völliger Quatsch natürlich: einmal Veteran, immer Veteran. Was tatsächlich fehlt, ist die Endung: mit dem Veteranen. Denn der Veteran ist nicht nur alt, sondern auch gebeugt – jedenfalls im Dativ. Und die Präposition »mit« erfordert nun mal den Dativ. Sie »regiert« den Dativ, wie der Grammatikaner sagt.

Das traurige Schicksal des Veteranen stellt beileibe keinen Einzelfall dar. Mit folgender Überschrift wurde die Hinrichtung eines amerikanischen Soldaten im Irak gemeldet: »Terroristen exekutieren US-Soldat«. Bedauerlich war nicht nur der Inhalt der Meldung, sondern auch der Umgang mit der Grammatik. »Es muss US-Soldaten heißen«, wende ich ein, »denn der Soldat wird in Dativ und Akkusativ zum Soldaten.« – »Aber dann denken die Leser, dass mehrere Soldaten erschossen wurden«, verteidigt sich der Textchef, »das wäre doch missverständlich. So ist es klarer!« So ist es auf jeden Fall falscher. Man muss sich schon entscheiden, ob man das Risiko eingeht, der Leser könne zwei Sekunden lang an einen Plural glauben, oder ob man ihn lieber glauben lassen will, man habe Probleme mit der deutschen Sprache.

Dasselbe Problem steckt auch in der folgenden Aussage: »Die Mehrheit der Wahlmänner und -frauen hat sich auf Horst Köhler als Bundespräsident festgelegt«. Im Nominativ ist Horst Köhler als Bundespräsident korrekt, doch im Akkusativ kann und darf man ihn nur als Bundespräsidenten bezeichnen. Und wenn Gerhard Schröder nach Washington fliegt, dann trifft er den US-Präsidenten, nicht den US-Präsident. Jedem Agent läuft es dabei eiskalt den Rücken hinunter.

Nicht viel besser ist es um den berühmten Schönheitschirurgen bestellt, dessen Endsilbe wohl einem Lifting zum Opfer fiel, wenn der Fernsehsprecher ihn als »berühmten Schönheitschirurg« vorstellt. Ganz zu schweigen vom Kandidaten der Quizsendung, der permanent zum »Kandidat« verkürzt wird: »Dann bitte ich jetzt unseren nächsten Kandidat zu mir!« Und gleich danach dieser Spruch in der Werbung: »Jetzt gibt es den neuen Swiffers-Staubmagnet!« Da fragt man sich unwillkürlich: Wie soll an dem Ding der Staub haften bleiben, wenn ihm doch schon in der Werbung die Endsilbe abfällt?

Die Neigung, bei schwach gebeugten männlichen Hauptwörtern die Endungen im Dativ und im Akkusativ einfach unter den Tisch fallen zu lassen, ist sehr stark ausgeprägt. Sätze wie »Dem Patient geht's gut« und »Lukas, lass den Elefant in Ruhe« sind mittlerweile häufiger zu hören als die korrekt formulierten Aussagen »Dem Patienten geht's gut« und »Lukas, lass den Elefanten in Ruhe«. Die Unterlassung der Deklination ist umgangssprachlich weit verbreitet, standardsprachlich jedoch gilt sie als falsch.

Wenn die Bank auf einem Schild darauf hinweist, dass wegen einer Computerumstellung heute leider »keine Kontoauszüge am Automat« erhältlich seien, brennt es einem in den Augen. Wenn der Komiker im Fernsehen freimütig berichtet, wie er sich letztens wieder »zum Idiot gemacht« habe, kribbelt es einem in den Ohren. Wenn eine Illustrierte »neue Enthüllungen über den norwegischen Prinz« verspricht, bekommt man schon rote Flecken, und wenn kleine handgeschriebene Kärtchen an hübsch verpackten Geschenken verkünden, dies sei »für den Konfirmand«, dann wird der Juckreiz unerträglich.

Kennen Sie jemand, der sich von niemand beugen lässt? Das wäre – in grammatischer Hinsicht – keine gewinnbringende Bekanntschaft. Sollten Sie aber jemanden kennen, der niemandem einen Ge-Fall-en ausschlägt, dann dürfen Sie sich glücklich schätzen. Der Verzicht auf die Endung bei »jemand« und »niemand« im Dativ und im Akkusativ ist heute nahezu selbstverständlich. Und er hat bereits so lange Tradition, dass er mittlerweile von den Grammatikwerken gebilligt wird. Nicht gebilligt werden hingegen »Neue Erkenntnisse über den Höhlenmensch«, »Fotografien vom Planet Erde« und schon gar nicht die »Jagd auf den letzten Leopard«. Zu wünschen wäre vielmehr, dass, solange noch Menschen auf diesem Planeten leben, sie sich für den Leoparden und andere bedrohte Arten einsetzen und den Kasus Verschwindibus bekämpfen werden.

Am schlimmsten bedrängt vom Kasus Verschwindibus ist der Genitiv, und zwar bei Fremdwörtern männlichen und sächlichen Geschlechts. Viele scheinen zu glauben, man könne auf die Genitivendung verzichten; so mancher hält ihre Verwendung gar für falsch. Und so kommt es zu Ausstellungen über »Die Kulturgeschichte des Kaffee« (statt des Kaffees) und zu Büchern über »Die Geheimnisse des Islam« (statt des Islams). Man liest vom »Vorsitzenden des Komitee« und studiert das »Programm des diesjährigen Festival«. Und immer wieder hört man von den »Terroranschlägen des 11. September« statt von den Terroranschlägen des 11. Septembers. Wenn man die Verursacher des September-s-Wegfalls fragt, was sie dazu veranlasst habe, so antworten die meisten, die Form ohne »s« klinge in ihren Ohren »irgendwie richtiger«. Begründungen, die das Wort »irgendwie« enthalten, die also irgendwie so aus dem Bauch heraus entstanden sind, sind irgendwie nicht richtig überzeugend. Natürlich muss es »des 11. Septembers« heißen, was sollte am Weglassen eines Schlusslaut elegant sein? (Wenn Sie eben zusammengezuckt sind und denken: es muss doch »Schlusslautes« heißen, dann ist das der beste Beweis.) Der Verzicht auf die Genitivendung bei Fremdwörtern wird vom Duden als falsch bezeichnet. Zum Glück! Sonst wäre dieses Buch nämlich kein Beitrag zur Rettung des Genitivs, sondern höchstens einer »zur Rettung des Genitiv«.

Und das wäre nicht genug! Denn der Genitiv braucht jede verfügbare Hilfe, um die Ausbreitung des Kasus Verschwindibus einzudämmen. Sonst steht er irgendwann völlig nackt da. Dann ist es »in den Weiten des Orient« genauso öd und leer wie »am Rande des Universum«. Und ein bisschen mehr Beugungen wünscht man sich auch für die anscheinend endlose und vor allem endungslose »Erfolgsgeschichte des Kerpener vom Kart-Pilot zum Top-Favorit des deutschen Motorsport«. Wo der kassierte Kasus grassiert, wird man früher oder später des Wahnsinn fette Beute.

Diese Kolumne finden Sie – leicht variiert – auch in Bastian Sicks Bestseller »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod – Folge 2«.